Kapitel 12

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»Nach dem Mittagessen werde ich dir erstmal zeigen, wie man fliegt«, sagt Matt, als wir endlich bei meinem Zimmer angekommen sind.
»Wieso? Magst du es nicht, mich zu meinem Zimmer zu begleiten?«, frage ich schmunzelnd.
»Doch schon, aber ich bin seit du hier bist, länger in der Schule herumgegangen als in den vergangenen drei Jahren. Was sagt dir das?«
Das kann er doch nicht ernst meinen! Zu meinem Zimmer geht man höchstens 15 Minuten, länger nicht. »Dass du schleunigst anfangen solltest, deine Beine zu trainieren!«, kontere ich, was ihn zum Lachen bringt. »Nein wirklich! Gehen kann man auch verlernen, weiß du?«
Anstatt etwas zu erwidern, zieht er mich an sich. »Warte, nicht. Ich schwitze«, jammere ich und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien.
»Das macht mir überhaupt nichts aus.« Ich kann keinerlei Albernheit in seinem Blick erkennen. Seine Miene ist völlig ernst. Das ist wohl das Romantischste, das je jemand zu mir gesagt hat.
Okay, jetzt verliere ich wirklich meinen Verstand! Was soll das, Britney?
Ich gebe es auf, mich gegen ihn zur Wehr zu setzen und lasse mich von Matt an sich drücken. Mein schlägt mir bis zum Hals, als er sich leicht zu mir beugt. Sein Gesicht ist nur noch Zentimeter von meinem entfernt. Einen Moment lang genieße ich seine unmittelbare Nähe, als seine Lippen sanft auf meine treffen und in mir ein Feuerwerk an Gefühlen auslösen. Auf einmal schießt mir ein Bild von Alex ins Gedächtnis, als er sich mir im Hof gezeigt hat. Ich entferne mich leicht von Matt und setze ein schüchternes Lächeln auf. Was soll das denn? Warum denke ich jetzt an Alex, wenn ich dabei bin, Matt zu küssen?
»Ähm ... ich gehe jetzt mal. Wir sehen uns dann zum Mittagessen.«
»Soll ich dich abholen?«, fragt er leise und gibt mir noch einen Kuss auf die Wange.
Ich sperre die Tür auf und trete nach drinnen. »Nein, schon okay. Ich finde den Weg.« Er nickt und dreht sich um. Schnell schließe ich die Tür und lehne mich von innen dagegen. Was ist bloß los mit mir? Warum mache ich mir selbst das Leben hier noch komplizierter?
»Alles in Ordnung?« Ich schrecke hoch, als ich sein Mädchen in meinem Zimmer sitzen sehe. »Oh tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin deine Zimmergenossin. Mein Name ist Cora.« Sie kommt auf mich zu und streckt mir zur Begrüßung die Hand hin.
»Hi. Ich wusste nicht, dass du ... seit wann bist du wieder hier?«, frage ich und streiche mir nervös eine Strähne, die mir im Gesicht klebt, hinters Ohr.
»Ich bin gerade eben gekommen. Meine Eltern hatten heute keine Zeit mehr, da bin ich früher gekommen«, erklärt sie und lächelt mich freundlich an.
»Mir gefallen deine Haare. Ist das deine Naturfarbe?«, frage ich, um aus der merkwürdigen Situation zu fliehen und schaue auf die orangen Haare, die ihr in Wellen über die Schulter fallen.
»Ja, das liegt bei uns in der Familie. Zu Hause haben alle einen orangen Schopf – ich habe nämlich noch zwei große Brüder und eine kleine Schwester. Bis auf unsere Mum, sie hat schwarze Haare. Tja, in dem Aspekt war wohl mein Vater der dominante. Dafür habe ich Mums Augen geerbt. Oh Mann, ich kann schon wieder nicht aufhören zu plappern. Das passiert mir häufig. Du musst mir einfach sagen, wenn ich dir zu viel reden, dann höre ich auf, versprochen.«
Ich muss lachen und nicke bloß. Ich denke, Cora und ich werden uns prima verstehen. »Ich werde es mir merken«, entgegne ich und mache mich auf den Weg ins Bad.
»Wollen wir nachher gemeinsam essen gehen?«, ruft sie mir noch hinterher.
»Klar!«, sage ich und freue mich, mich nicht mit Alex und Matt auseinandersetzen zu müssen. Das heiße Wasser prasselt auf meinen Kopf und lässt mich für einen kurzen Moment entspannen. Ich schließe die Augen und schalte meinen Kopf für einen Moment ab. Die wohltuende Wärme umhüllt mich und lässt mich vergessen, wo ich bin und wieso ich hier bin. Am liebsten würde ich noch Stunden hier drinnen verbringen und mich entspannen, doch das geht leider nicht. Ich atme tief durch und mache die Augen wieder auf, als mich plötzlich ein heftiger Anflug von Schwindel überfällt. Ich fühle meinen Herzschlag stärker als jemals zuvor und vor meinen Augen verschwimmt die Umgebung. Meine Beine geben unter mir nach. Ich lehne mich an die Duschwand und blinzle einige Male, aber es wird einfach nicht besser. Alles beginnt sich zu drehen. Ich kneife die Augen zusammen und halte meinen Kopf. Was passiert gerade?
So schnell er gekommen ist, ist der Schwindel wieder vorbei. Ich atme erleichtert aus und schlage die Augen auf, was mich stocken lässt. Ich sitze nicht mehr in der Dusche. Auch nicht mehr in meinem Zimmer oder der Schule. Stattdessen erstreckt sich um mich herum eine Wüste, soweit das Auge reicht. Ich drehe mich ein paar Mal im Kreis, aber etwas Tröstlicheres als diese endlosen Sanddünen kann ich nicht finden. Das ist ein Traum! Ganz bestimmt. Schnell sehe ich an mir herunter. Ich trage eine beige Hose und ein einfaches weißes T-Shirt. Wann habe ich mich denn umgezogen? Das gibt es doch nicht! Schnell kneife ich mich in den Arm. »Au!«, sage ich, aber das befördert mich auch nicht wieder zurück in die Dusche. Vielleicht ... bin ich tot? Ein Herzinfarkt! Ein Herzinfarkt in der Dusche – keine schöne Art zu sterben. Aber wenigstens ging es schnell und ich wurde nicht von einem Dämon aufgespießt. Allmählich bekomme ich es mit der Angst zu tun. Wenn das die Hölle ist, dann drehe ich durch! Das wäre zu viel für einen Tag! Ein Engel in der Hölle.
Ich drehe mich noch einmal um und sehe eine schwarze Gestalt, die nicht weit von mir entfernt steht und mich anzusehen scheint. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, da sie einen Kapuzenpullover trägt. »Hallo? Wer bist du?«, rufe ich und gehe einen Schritt auf die Person zu. Dem Körperbau nach zu urteilen würde ich sagen, es ist eine Frau. Die zierliche Figur kann man auch unter dem Pullover und der weiten Hose erkennen. »Wo bin ich?«, versuche ich es noch einmal. Die Frau steht immer noch wie angewurzelt da und starrt mich an. Ganz schön unheimlich. Das fühlt sich beinahe so an wie heute, als ich mit Alex im Ring stand. Mein Angreifer bereitet sich vor. Sie wartet wahrscheinlich nur auf den richtigen Moment, um mich anzugreifen. Auf einen Fehler von mir, aber das wird nicht passieren. Doch anstatt auf mich zuzukommen, greift die Fremde nach ihrer Kapuze und zieht sie langsam nach hinten, um ihr Gesicht freizulegen. Oh mein Gott!
Ich schnappe nach Luft und stoße mir hart den Kopf an der Wand hinter mir. Das heiße Wasser regnet auf mich herab und verbreitet dein Wasserdampf im ganzen Bad. Ich bin wieder in der Dusche und liege am Boden. Ohne mein Shampoo fertig abzuwaschen, drehe ich das Wasser ab und steige hinaus. Nachdem ich mir schnell ein Handtuch umgebunden habe, reiße ich die Tür auf und atme gierig die frische Luft ein.
»Was ist los?« Cora kommt in mein Zimmer gerannt und sieht mich verwirrt an.
»Wie lange war ich weg?«, platzt es aus mir heraus.
»Weg? Was meinst du damit?«
»Wie lange?«, frage ich mit Nachdruck, was Cora sichtlich verunsichert.
»Du ... hast geduscht. Ungefähr zehn Minuten, würde ich schätzen. Wieso? Was ist los?«
Nur zehn Minuten? Das kann unmöglich sein. Es hat sich so angefühlt, als wäre ich eine Ewigkeit in dieser merkwürdigen Wüste gewesen. Diese Frau ... Als sie die Kapuze abgenommen hat, hätte ich schwören können, dass ihr Gesicht genauso aussah wie das meiner Mutter. Aber das kann unmöglich sein. Meine Mum ist tot. Vielleicht verliere ich tatsächlich meinen Verstand, das wäre wohl das Naheliegendste.
»Lucy! Alles okay? Was ist passiert?« Auf einmal kommt Matt auf mich zugestürzt. Hinter ihm lehnt Alex in der Tür, der mich ebenfalls neugierig betrachtet.
»Wie kommt ihr denn hierher?«, frage ich verblüfft. Bin ich schon wieder weggetreten?
»Cora hat gesagt, dass mit dir etwas nicht stimmt, da sind wir sofort gekommen. Jetzt sag schon, was los ist!«, drängt Matt, der bei meinem Bett stehen geblieben ist, um mir etwas Abstand zu geben.
»Ich habe sie gesehen«, flüstere ich und kann es immer noch nicht glauben. Vorhin fühlte es sich so unglaublich real an, in der Wüste zu stehen, aber jetzt ist es nur noch wie ein weit entfernter Traum. Ich komme mir beinahe dumm vor, deswegen so einen Aufstand zu machen.
»Wen hast du gesehen?«, fragt Alex, der nun auch einen Schritt in mein Zimmer wagt. Cora schlüpft an mir vorbei und bringt mir einen Bademantel aus dem Bad. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich mir bloß ein Minihandtuch um meinen nackten Körper gebunden habe, der gerade so meinen Hintern und nicht besonders viel von meiner Oberweite bedeckt. Dankbar nehme ich den Bademantel entgegen und wickle ihn schnell um meinen Körper, bevor mein Handtuch runterfällt und Matt und Alex auch den letzten Rest, der bedeckt ist, von mir zu sehen bekommen.
»Meine Mum ...«, wage ich zu sagen und lasse mich aufs Bett fallen. Die Reaktion der anderen ist genau wie erwartet. Von einer Sekunde auf die andere ist eisiges Schweigen in mein Zimmer gekrochen. Es schreit mich an und zehrt an mir. Es schlingt die Finger um mich und schnürt mir die Kehle zu, bis ich es schließlich nicht mehr aushalte und aufspringe.
»Ich weiß, dass es verrückt klingt und ich mache mir wahrscheinlich mehr Sorgen um meinen Verstand, als ihr alle zusammen, aber ich habe sie gesehen. In der Dusche wurde mir plötzlich schwindelig und auf einmal stand ich in meiner Wüste meiner Mutter gegenüber.« Hektisch sehe ich von einem zum anderen. Mein Herz rast vor Angst und Aufregung und meine Knie beginnen zu zittern. Bevor ich noch einmal umkippe, setze ich mich lieber hin. »Ich weiß, dass ihr mir nicht glaubt. Ich kann es ja selbst kaum fassen, aber es ist die Wahrheit«, beharre ich und starre angestrengt auf meine Hände.
»Ich glaube dir«, sagt Alex, der als erster seine Stimme wieder gefunden hat und stellt sich vor mich. Gerade von ihm, hätte ich es am wenigsten erwartet.
»Alex! Das ist unmöglich und das weißt du!«, zischt Matt seinem Bruder zu, ohne mich nur eines Blickes zu würdigen. Das versetzt mir einen Stich. Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet Alex mir Glauben schenkt und Matt mir das Gefühl gibt, nicht ganz dicht zu sein.
»Nichts ist unmöglich. Das habe ich schon vor langer Zeit gelernt. Und ich dachte eigentlich, dass du den Mumm hättest, die das einzugestehen, Matt!«
»Wovon sprecht ihr?«, frage ich beinahe panisch.
»Das ist nicht wichtig!«, wendet Matt ab und lehnt sich mit verschränkten Armen gegen den Türstock.
»Was? Natürlich ist es wichtig! Ich will wissen, was mit mir passiert!« Ich springe auf und beginne panisch im Zimmer auf und ab zu laufen, in der Hoffnung, dass ein wenig Bewegung mich beruhigt. Tut es nicht.
»Hey Lucy, bleib stehen.« Alex hält meine Hand fest, damit ich stehen bleibe, doch ich entreiße sie ihm.
»Erklär mir, was mit mir passiert ist!«
Alex senkt den Blick und seufzt. »Das kann ich nicht. Ich weiß es selbst nicht.« Matt sieht mich vom anderen Ende des Zimmers forschend an. Die Wut auf ihn überkommt mich wie ein Wirbelsturm. Zuerst verdreht er mir den Kopf und dann sieht er mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank, obwohl er doch derjenige ist, der in einer Welt aus Engel und Dämonen lebt!
Ich stürze so schnell auf ihn zu, dass Matt leicht zusammenzuckt. »Erklär es mir!«
»Lucy ...«, sagt Alex sanft. Ich drehe mich um und schaue in das verstörte Gesicht von Cora, die mich betrachtet, als wäre ich geisteskrank. Vielleicht bin ich das ja. So plötzlich die Wut gekommen ist, verschwindet sie auch wieder und wird erlöst von völliger Leere. Mein Blick fällt auf die Vorhänge, die im leichten Wind, der durch das offene Fenster kommt, tänzeln. Was ist bloß aus mir geworden? Wieso kann nicht alles wieder so sein wie früher? Meine Augenlider beginnen zu flackern, ich sinke auf die Knie und dann sehe ich nichts mehr.

Flügel und SchlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt