Kapitel 19

3 0 0
                                    

»Lucy! Hey, wir müssen hier weg!« Jemand rüttelt mich an der Schulter und zwingt mich, die Augen aufzuschlagen. Ich blinzle ein paar Mal und bemerke, dass ich immer noch im Wald liege. Plötzlich kommen die Bilder von dem Kampf wieder in mein Gedächtnis. Ich versuche, mich zu bewegen, doch der Schmerz übermannt mich.
»Was ist passiert?«, frage ich und bemerke, wie Alex sich besorgt über mich beugt. Mit einem Ruck reißt er ein Stück von seinem Shirt weg und bindet es fest um mein Bein, damit der Schnitt aufhört, zu bluten.
»Ich konnte gerade noch rechtzeitig den echten Dämon ausmachen, bevor sie dich getötet hätten«, erklärt er.
Ich nicke und greife mir an den Kopf. »Oh... ich bin gegen einen Baum gerannt...«, murmle ich. Gerannt stimmt nicht ganz, ein Dämon hat mich dagegen geschleudert, aber das ist unwichtig. Das wird bestimmt eine migränereiche Nacht, das kann ich fühlen.
»Ich weiß. Wir müssen hier weg, Lu, sonst kommen noch mehr und das würden wir beide nicht überleben!« Alex zieht mich auf die Beine und schnappt sich meine Reisetasche. Meine Umgebung beginnt sich zu drehen, als ich stehe. Ich kneife die Augen zusammen und greife mir an den Kopf. Gerade als ich einen Schritt nach vor machen will, gibt mein Bein unter mir nach. Ich wäre wieder auf den Boden gekracht, hätte Alex nicht im letzten Moment seinen Arm um meine Taille gelegt. »Wow, dich hats ja echt schlimm am Kopf erwischt...«
»Oh ja!«, sage ich und muss lachen. »Ich sehe nur noch verschwommen«, gebe ich zu, was mir einen besorgten Blick von ihm einbringt. Der Weg zurück zu Hannahs Haus scheint ewig zu sein. Ich humple so gut es geht, neben Alex her, aber die gewaltigen Schmerzen fahren bei jeder Bewegung durch meinen Körper. Alex bemerkt mein schmerzverzerrtes Gesicht und versucht, mich besser zu stützen, doch er ist selbst vollkommen erledigt.
»Wir haben es bald geschafft«, sagt er. Zum Glück sind nur wenige Menschen auf den Straßen unterwegs, die uns merkwürdige Blick zuwerfen. Da sieht man wieder mal die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Leute. 

»Was ist passiert?« Hannah und Ruth rennen aus dem Haus und schauen uns panisch an.
»Wir wurden angegriffen«, erklärt Alex. Ruth nimmt ihm die Tasche ab und hilft uns ins Haus. Da ich es nicht mehr schaffe, die Treppen zu Hans Zimmer zu gehen, legen sie mich auf die Couch im Wohnzimmer, die sie zuvor mit Handtüchern auslegen, damit kein Blut und Dreck darauf landen.
»Bringt mir eine Schere, ein feuchtes Tuch, eine Flasche Schnaps und einen Erste-Hilfe-Kasten«, sagt Alex mit Nachdruck und kniet sich neben mich auf den Boden. Die beiden stürmen sofort nach oben, um alles zu besorgen. Erst da bemerke ich Alex' Verletzungen. Seine Lippe ist aufgebrochen, er hat eine Platzwunde auf der Stirn und seine Kleiner sind zerrissen. Ohne nachzudenken, strecke ich meine Hand nach seinem Gesicht aus und streiche über seine wunde Lippe.
»Es geht mir gut«, flüstert Alex und lächelt leicht.
»Das sieht aber nicht danach aus.«
Er lacht und steckt eine Strähne hinter mein Ohr. »Du solltest dich mal sehen!«
Meine Hand verweilt immer noch auf seinem Gesicht. Alex' Lächeln erlischt und er sieht mir ernst in die Augen. Mit meinen Fingern fahre ich weiter über seine Wange und hinunter zu seinem Kinn.
»Wir haben alles«, sagt Han in dem Moment und setzt sich neben mich. Schnell nehme ich die Hand weg und wende den Blick ab.
»Gib mir die Schere«, befiehlt Alex und streckt die Hand aus. Mit der großen Schere setzt er am Schaft meiner Hose an und macht den ersten Schnitt.
»Hey! Was soll das?«, fahre ich ihn an und starre auf meine zerschnittene Hose.
»Wir müssen dein Bein frei bekommen und so geht es am schnellsten.«
»Ja Lu. Diese Hose ist so oder so im Arsch«, murmelt Ruth, um mich aufzumuntern, doch ich erkenne deutlich die Sorge in seinem Gesicht.
»Außerdem machen die das in Filmen auch immer so«, mischt Han sich ein, die den Blick von meinem Bein abwenden muss.
»Also hängt mein Bein jetzt von der Seriosität von Filmszenen ab?«, raune ich und lasse meinen Kopf seufzend nach hintern fallen. Alex ignoriert meine Einwände und schneidet meine Hose weiter auf. Das kalte Metall wandert an meinem Oberschenkel nach oben, bis er an meinem improvisierten Druckverband ankommt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, aus der Hose geschnitten zu werden, vor allem, wenn es Alex tut. Als er die Überreste der Hose von meinem Schnitt nimmt, wage ich einen Blick auf die Wunde. Mein Bein ist blutüberströmt und legt einen tiefen Schnitt frei, der wahrscheinlich bis zu meinem Knochen reicht.
»Oh mein Gott!«, haucht Han und starrt mit großen Augen auf die Verletzung.
»Gib mir das Tuch, Hannah!« Alex fährt sanft um den Schnitt herum und wäscht das verklebte Blut von meinem Bein. Zum Glück hat der Druckverband seine Arbeit getan, sodass die Wunde nicht mehr so stark blutet wie vorhin. Im nächsten Moment öffnet Alex den Schnaps und durchtränkt das rote Tuch damit.
»Das wird mir mehr wehtun als dir«, flüstert Alex und sieht mir aufrichtig in die Augen. Ich schaue ihn verwirrt an und will gerade fragen, was das heißen soll, doch im nächsten Moment klatscht er das Tuch mit Schnaps auf den Schnitt. Ich schreie und kneife die Augen zusammen. Verzweifelt drücke ich meinen Kopf in die Kissen unter mir, doch der Schmerz wird einfach nicht besser. Das schreckliche Brennen ist beinahe noch schlimmer als der Stich selbst.
»Es ist bald vorbei«, versucht Alex mich zu beruhigen, doch das höre ich kaum. Ruth reicht mir seine Hand, die ich fest drücke.
Nach ein paar qualvollen Minuten lässt der Schmerz endlich nach und meine Atmung verlangsamt sich. Han murmelt, dass sie sich ein Glas Wasser holen will und verschwindet mit Ruth im Schlepptau in der Küche. Alex streicht mir vorsichtig über die Wange und wischt die Tränen weg.
»Alles gut, du hast es überstanden«, flüstert er und sieht mir sanft in die Augen. »Okay, ich kann deine Wunde mit meinem Luz ein wenig heilen. Dann kannst du immerhin bald wieder gehen und der Rest wird auch schnell verschwinden«, erklärt er, während er seine Hände auf meine Wunde legt und die Augen schließt. Augenblicklich beginnen seine Hände hell zu glühen, was mich erstaunt aufblicken lässt. In meinem Bein breitet sich eine wohltuende Wärme aus. Zwar brennt die Hitze ein wenig in meiner Wunde, aber es ist ein guter Schmerz. Ich seufze und fühle, wie ich mich ein wenig entspanne. Alex kneift immer noch die Augen zusammen. Seine Unterlippe hat leicht zu beben begonnen. Ich sehe, wie sehr es sich anstrengt, um mich zu heilen.
Ich schlucke und wandere mit meinen Augen über sein ganzes Gesicht, nehme jedes noch so kleine Detail in mich auf. Seine rauen Bartstoppeln, die ihn unordentlich sexy und jungenhaft wirken lassen, seine unglaublichen, dunklen Augen, in denen eine ganze Welt versteckt ist und seine weichen und vollen Lippen, die ich schon einmal küssen durfte. Ich erinnere mich an meinen ersten Tag in der Schule. Ich hatte eine Panikattacke, weil mir das alles zu viel war und daraufhin hat Alex mich geküsst. Ich habe ihn von mir gestoßen, aber um ehrlich zu sein, war das der Anfang meines Herzklopfens für ihn. Als sich mein Bein schon viel besser anfühlt, lege ich meine Hand auf seine Wange. Er öffnet überrascht die Augen, wodurch sein Luz verblasst.
»Es geht schon, du musst nicht dein ganzes Luz für mich verbrauchen«, flüstere ich und schmunzle leicht.
»Das hätte ich nicht«, meint er und schluckt, doch ich sehe, dass er lügt. Alex würde alles für mich tun, auch wenn das bedeutet, dass es ihm schlecht geht. Ich fahre mit meinen Fingern an seinen Nacken und ziehe ihn an mich. Alex berührt mit seinen Lippen leicht die meinen. Es war ein unwahrscheinlich zärtlicher Kuss. Unser Lippen streifen sich nur leicht, aber es ist genug, um meinen Körper Funken sprühen zu lassen. Ich vergesse alles um mich herum. Hannah und Ruth, die Dämonen und sogar die Schmerzen. Er fährt mit seiner Hand unter meinen Kopf und zieht mich an sich, um mich noch einmal küssen zu können. Ich bin vom Geschmack seiner Lippen, von der Zärtlichkeit seiner Berührung und dem Gefühl der Zuneigung so überwältigt, dass ich alle meine Gedanken, die mir sagen, dass das nicht sein darf, abschalte. Unsere Zungen streifen sich und lösen in mir ein Feuerwerk aus. Ich streiche über seinen Rücken und setze mich auf, um ihm noch näher zu sein. Alex Hände ruhen an meiner Taille und ziehen mich lustvoll an ihn. Mein ganzer Körper wird an seinen gepresst, was eine Schar Schmetterlinge in meinem Bauch rumflattern lässt. Doch so schön das auch ist, ich weiß, dass es falsch ist, was wir hier tun.
»Wir dürfen das nicht«, flüstere ich an seinen Lippen und entferne mich ein Stück von ihm. Auch, wenn mir das einen schmerzhaften Stich versetzt.
»Wieso nicht?« Alex streicht über meine Wange und sieht mich mit seinen umwerfenden Augen intensiv an. »Wegen Matt?«
Ich schlucke schwer und senke den Blick.
»Hast du schon vergessen, wie er dich behandelt hat?« Alex kneift die Augen zusammen. »Hängst du noch an ihm?«
»Nein, das habe ich nicht vergessen. Er hat mir sehr wehgetan, aber ich hänge nicht mehr an ihm. Ich... ich will dich«, flüstere ich und bemerke, dass es die Wahrheit ist. Die ganze Zeit über schon wollte ich Alex. Auch, als er mich mit seinem Gerede auf die Palme gebracht hat. Ohne nachzudenken, ziehe ich ihn noch einmal an mich und küsse ihn leidenschaftlich. Das fühlt sich so richtig, aber gleichzeitig so falsch an.
»Nein, warte!«, sage ich schnell und drücke ihn sanft von mir. »Er ist dein Bruder... wir können das nicht machen...«, hauche ich und schaue ihn bedauernd an. Alex nickt traurig und zieht sich von mir zurück. Ich schließe die Augen und seufze. Was tue ich da bloß?

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 13, 2022 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Flügel und SchlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt