Ich sitze an einem kleinen Tisch mitten in der Schulbibliothek und warte auf Alex, der ein Engel ist ... Das kann ich immer noch nicht ganz begreifen. Mein Gehirn versucht ständig, eine Möglichkeit zu suchen, die beweist, dass das alles nur ein Fake war. Dass seine Flügel im Hof nicht echt waren und dass doch noch ein paar Kameraleute aus den Ecken springen und »Überraschung« rufen. Aber nein. Alex und Melanie haben tatsächlich die Wahrheit gesagt, das ist die logischste Erklärung. Und mein Vater auch. Schon seit einer ganzen Weile, nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, Alex mit Flügeln zu sehen, plagt mich ein unglaubliches schlechtes Gewissen, weil ich mich ihm und Martha gegenüber so mies verhalten habe. Andererseits hätten sie sich denken können, dass ich so reagiere. Meine Mutter ist gestorben, mein Körper machte eine (wie ich erfahren habe) große Veränderung durch und dann, als meine Welt ohnehin schon auf dem Kopf stand, versuchen die beiden alles mit einem Märchen zu erklären. Da würde jeder halbwegs normale Mensch auszucken! Und ich bin nicht einmal ein »normaler Mensch«.Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen, als mir bewusst wird, wie falsch ich ständig über meine Mutter gedacht habe. Sie ist nur weggegangen, um uns zu beschützen. Zwar weiß ich noch nicht wirklich warum, aber das wird sich hoffentlich bald alles aufklären. Jedenfalls hat Sarah meinen Hass nicht verdient. Allerdings kommt dieses Eingeständnis ein wenig spät, sie ist nämlich schon tot. Ich beschließe, meine Gedanken wieder zur Schule schweifen zu lassen, bevor ich hier noch einmal zu heulen beginne. Das ist tatsächlich eine Schule. Eine Schule für Engel. Aber mehr als den Hof, das Krankenzimmer und die Bibliothek habe ich noch nicht gesehen. Die Bibliothek, in der ich jetzt bin, ist riesig. Sie hat sogar zwei Stockwerke. Unten an den Wänden stehen einige Bücherregale, in der Mitte sind kleine Tische aufgestellt und am Rand einige gemütliche Sessel. Im zweiten Stock verläuft ein einziges riesiges Bücherregal durch den ganzen Raum mit unzähligen Büchern. Ich staune immer noch über die Schönheit der Bibliothek und die enorme Auswahl an Büchern, als ich draußen Schritte wahrnehme. Ruckartig drehe ich mich zu der zweiflügligen Tür um, durch die ich vorhin gekommen bin. Die Türschnalle wird heruntergedrückt und auf einmal steht Matt vor mir. Mein Herz macht vor Erleichterung, endlich ein bekanntes und vertrauenswürdiges Gesicht zu sehen, einen Sprung.
»Matt!«, rufe ich, springe auf und laufe ihm überstürzt in die Arme. Er stockt kurz überrascht, bevor er ebenfalls die Arme um mich schlingt. Ich atme seinen unvergleichlichen Duft ein und vergrabe mein Gesicht in seinem Nacken. Erst einige Sekunden später fällt mir auf, dass das die erste Umarmung zwischen uns ist. Schnell lasse ich ihn los und mache zwei Schritte zurück.
»Tut mir leid«, stammle ich und spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt.
»Nein ... schon gut. Das hast du bestimmt gebraucht.« Matt räuspert sich und schenkt mir ein breites Lächeln. Irre ich mich oder ist er auch ein wenig rot geworden?
»Du hast ja keine Ahnung!«, seufze ich und fahre mir durch die Haare. »Warte! Du bist auch ein...«
»Engel. Ja.«
Er grinst verschmitzt und kratzt sich nervös im Nacken.
»Wow... und du wusstest auch, dass ich einer bin? Die ganze Zeit?«
»Ja. Eigentlich war das der Grund, warum Alex und ich an deine Schule gekommen sind. Du warst der Grund.«
Ich reiße perplex die Augen auf. »Was?«
»Na kommt schon! Ich will heute noch fertig werden!«, ruft Alex, der an uns vorbei zum Tisch rauscht, und beendet unser Gespräch somit. Die beiden setzen sich mir gegenüber. Da heute Samstag ist, ist die Bibliothek glücklicherweise leer, so können wir in Ruhe reden. Allerdings kann man das hier nicht wirklich als »reden« bezeichnen, denn seit geraumer Zeit starren mich die zwei einfach nur an. Ich fühle mich, als wäre ich bei einem Bewerbungsgespräch. Es ist wirklich merkwürdig.
»Was ist denn?«, platzt es aus mir heraus, als ich es nicht mehr aushalte.
»Hast du irgendwelche Fragen?«, beginnt Alex schließlich und verzieht grübelnd das Gesicht. Anscheinend weiß er nicht, wo er anfangen soll. Ich kann es ihm nicht verübeln. Wie erklärt man jemandem, der bis eben noch dachte, er sei ein ganz normaler Mensch, dass er verdammter ein Engel ist?
»Meinst du das ernst? Natürlich habe ich Fragen! Tausende! Ich weiß bloß nicht, wo ich anfangen soll ...«
»Was weißt du denn?«, fragt Alex. Dasselbe hat er mich auch schon im Krankenflügel gefragt.
»Ach, das hatten wir doch schon! Kannst du nicht einfach dort weitermachen, wo du und Mel aufgehört habt?«
»Wie du willst.« Alex lehnt sich leicht zu mir nach vorne und sieht mir tief in die Augen. »Also: Es gibt den Himmel und die Hölle. Die Vertreter des Himmels sind die Engel und jene der Hölle sind die Dämonen«, sagt er so beiläufig, als hätte man ihn gefragt, welcher Teller für welches Gericht ist. »Und beide sind weder gut noch böse.«
»Warte!«, unterbreche ich ihn, »weder gut noch böse?«
»Ja, anfangs schon!«, sagt er und starrt mich genervt an, weil ich ihn unterbrochen habe. Ich hebe entschuldigend die Hände, verdrehe die Augen und lehne mich in meinem Sessel zurück.
»Früher lebten diese beiden Arten versteckt und von der Menschheit getrennt, da der große Mann von oben und der Meister von unten es für zu gefährlich hielten, alle Arten zusammenzubringen.«
»Das heißt also, dass die ganze Geschichte mit Gott und Luzifer ausgedachter Quatsch ist?«, unterbreche ich Alex noch einmal.
»Im Grunde beruht die Religion auf der Wahrheit, aber da die Menschen nicht alles wussten oder verstanden haben, wurden die Tatsachen ziemlich verdreht.«
»Also ist der Teufel kein gefallener Engel?«
»Nein.«
»Okay. Du kannst weiter erzählen.«
»Gut, also irgendwann gelang es einem Dämon, der später der Auslöser für diesen ewigen Kampf war, an die Oberfläche zu kommen – auf die Erde zu den Menschen. Er sah die Welt in all ihrer Farbenpracht und Schönheit und war gelinde gesagt neidisch. Dieser Neid verwandelte sich in Hass. Er berichtete den anderen Dämonen, wie wunderschön es war. Wie du dir vorstellen kannst, fühlte er sich ungerecht behandelt. Warum sollten nur die Menschen die vielen Schätze der Erde genießen dürfen, während sie in der unerträglichen Hitze und Hässlichkeit (zumindest sehen wir das so) der Hölle leben müssen. Viele Dämonen schlugen sich auf seine Seite und besiegten die Macht des Teufels, der sie in der Hölle gefangen hielt. Sie stürmten auf die Erde und begannen, alles zu verwüsten. Sie dachten, wenn sie schon nicht diese Schönheit genießen durften, dann darf es keiner. Die Engel wurden geschickt, um einzugreifen und die Dämonen wieder zurück in die Hölle zu befördern, was ihnen anfangs auch gelang. Doch mit der Zeit wurde auch der Big Boss der Hölle von den Machenschaften der Dämonen überzeugt, was die Engel schwer mitnahm, da sie nun gegen die ganze Macht der Hölle kämpfen mussten. Seit Generationen herrscht dieser Kampf zwischen Oben und Unten und er wurde immer schlimmer. Die Dämonen gewannen an Macht und besiegten die Engel nach und nach. Doch dann kam deine Mutter. Sie war stärker als alle Engel vor ihr. Dank Sarah hielten die Engel die Dämonen gut in Schach. Aber irgendwie haben sie es dann doch geschafft, sie aus dem Weg zu räumen. Und jetzt zerstören sie Stück für Stück die ganze Erde. Wenn wir sie nicht bald aufhalten, wird es zu spät sein. Dann kommt wahrlich die Hölle auf Erden. Das Leben, wie du es kanntest, würde verschwinden – vielleicht sogar alle Menschen. Und die Dämonen hätten die Macht.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Gehirn kommt mit dem Verarbeiten der vielen Informationen nicht ganz nach.
»Gut, also nochmal zum Mitschreiben...«, beginne ich und versuche, diese ganze Sache zu verstehen, »Dämonen, Engel und Menschen leben getrennt und dürfen nicht zusammenkommen. Das nervt die Dämonen, deshalb wollen sie die Erde zerstören. Und die Engel wollen das verhindern, deshalb herrscht dieser Krieg. Stimmt das soweit?«
»Ja genau.«
Plötzlich muss ich an die vielen Naturkatastrophen und vermissten Personen denken, die es in letzter Zeit gab. Ob das auch Auswirkungen dieses Krieges sind?
»Die vermissten Personen... waren das auch die Dämonen?«
»Ja. Und auch die zerstörten Städte und Katastrophen. Die Menschen wissen nur nicht, dass daran die Dämonen schuld sind«, erklärt Alex. Ich schlucke, als mir bewusst wird, dass das nur der Anfang war. Wenn die Dämonen nicht besiegt werden, steht das Ende der Welt bevor. Dass wir so kurz vor einer Apokalypse stehen, hätte ich mir nie auszumalen gewagt. Ich dachte immer, das Ende der Erde wäre, wenn die Sonne sie verbrennt, aber das passiert voraussichtlich erst in ein paar Millionen Jahren.
»Oh Mann!«, bringe ich lautlos hervor.
»Ja, das kannst du laut sagen«, erwidert Matt, der bis jetzt still war und starrt grimmig auf die Tischplatte vor ihm. Bis vor Kurzem hatte ich so viele Fragen, aber jetzt ist mein Kopf wie leergefegt.
»Deshalb brauchen wir dich. Deshalb brauchen wir jeden Engel, der verfügbar ist und du bist das gerade geworden«, fügt Alex noch hinzu und betrachtet mich mit einem wissenden Schmunzeln, das mir eine Gänsehaut auf die Arme treibt.
»Gerade geworden? Was soll ich darunter verstehen?«
»Na, du bist gerade zum Engel geworden.«
»Ich dachte, ich war schon mein ganzes Leben lang einer!«, werfe ich ein und schaue verständnislos von Matt zu Alex.
»Im Prinzip ja, aber deine Mutter wollte dich vor alldem beschützen. Sie wollte nicht, dass du von klein an darauf trainiert wirst, Dämonen zur Strecke zu bringen, wie sie. Sondern dass du eine normale Kindheit erleben kannst«, erklärt mir Matt.
»Das hat sie für mich getan?« Jetzt habe ich ein noch größeres schlechtes Gewissen wegen meiner Abneigung ihr gegenüber.
»Ja, aber das war auch sehr schlecht für dich. Als du geboren wurdest, ging Sarah mit dir zu einer Hexe, die ...«
»Es gibt Hexen?«, unterbreche ich Alex wieder.
»Ja.«
»Gehören die zu den Guten oder den Bösen. Also ... zu den Engeln oder den Dämonen«, verbessere ich mich, da es ja »Gut« und »Böse« eigentlich nicht gibt. Oder nicht gab? Ach, das verwirrt mich.
»Naja ... sie bilden die sogenannte Mittelschicht. Es gibt viele, die sich auf die Seite der Dämonen schlagen, aber die meisten machen bloß ihr eigenes Ding. Aus Hexen kann man nie wirklich schlau werden«, sagt Matt und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Gibt es dann auch Kobolde, Feen, Trolle und ... Meerjungfrauen?« Wenn ich wirklich eine leibhaftige Meerjungfrau sehen könnte, wäre das der Hammer!
»Was? Sei doch nicht albern, das sind dumme Märchenfiguren!«, sagt Alex und lacht.
»Bis vor einer halben Stunde warst du für mich auch nur irgendeine dumme Märchenfigur!«, kontere ich, was ihn zum Stutzen bringt. Matt allerdings gefällt meine Schlagfertigkeit. Eine Sekunde knistert die Luft, als Alex seinen Blick in meinen bohrt.
»Gut. Also, weiter im Text«, sagt er grummelnd und wendet sich von mir ab, »Deine Mutter ging mit dir zu einer Hexe, die dich mit einem Zauber belegte, der deine natürliche Entwicklung verhinderte. Sarah hat den Zauber mit ihrem Leben verbunden, weshalb er gebrochen ist, als sie starb.«
»Aha ... und wieso soll das schlecht sein? So wie ich das verstehe, wollte meine Mum mich von dieser verrückten Welt fernhalten, was ich ihr nicht verübeln kann.«
»Du verstehst das nicht Lucy!«, fährt Alex mich an und klopft auf den Tisch. Ohne es zu wollen, reagiert mein Puls und beschleunigt sich. »Ein Engel hat jahrelang Zeit, sich auf sein Wesen einzustellen. Er erlernt ganz langsam und schrittweise, was es bedeutet, ein Engel zu sein. Und wenn er dann die notwendige geistige und körperliche Reife entwickelt hat, kommen die Flügel. Als Zeichen dafür, dass man ein ausgewachsener und guter Engel ist. Aber deine Fähigkeiten konnten sich nicht ausbilden, deine Kraft und deine Flügel wurden über Jahre zurückgedrängt. Stell dir vor, all deine Kräfte wurden so lange in einem Kerker tief in dir eingesperrt und dort drinnen immer mehr. Dann, plötzlich, wurde die Zelltür aufgesprengt und alles wurde auf einmal auf dich losgelassen. Ein paar Tage konnte dein Körper dem Stand halten, aber als deine Flügel dann auch noch dazukamen, bist du unter der ganzen Last zusammengebrochen. Das ist in der Stadt passiert. Deshalb hattest du solche Schmerzen!«
Ich erinnere mich an dieses eigenartige Gefühl, das ich seit einigen Tagen mit mir herumtrug. Es fühlte sich an wie ein Kribbeln in meinem Körper. Das waren meine Fähigkeiten und meine Flügel. Der Engel in mir.
»Ja, das ergibt Sinn ...«, stammle ich und senke den Blick. »Was genau ist passiert, als du mich hergebracht hast?«
»Das sagte ich doch gerade. Deine Fähigkeiten haben deinen Körper überrumpelt und du hast deine Flügel bekommen. Das hieltst du nicht mehr aus und bist zusammengebrochen.«
Matt verzieht das Gesicht und senkt den Kopf. In seinen Blick schleicht sich ein Hauch von Schuld, als würde er sich Vorwürfe machen, nicht bei mir gewesen zu sein.
»Und ihr habt davon gewusst, als ihr an meine Schule kamt?«, greife ich das Gespräch zwischen Matt und mir noch einmal auf.
Alex rutscht ein Lachen heraus bei dieser Frage. »Schätzchen, das war der einzige Grund, warum wir an diese bescheuerte Schule kamen!«
»Dann habt ihr also darauf gewartet, dass sich meine Fähigkeiten entwickeln?«
»Ja. Wir haben auf dich aufgepasst«, sagt Matt lächelnd und sieht mir tief in die Augen, was mein Herz einen Sprung machen lässt.
»Ich hole mir etwas zu trinken. Bitte sagt mir, wenn ihr damit fertig seid«, sagt Alex und wedelt mit seiner Hand zwischen uns beiden hin und her. »Was auch immer das ist«, murmelt er noch im Weggehen und schnauft verächtlich. Ich drehe meinen Kopf und schaue ihm hinterher. Als er zur Tür hinaus verschwunden ist, beuge ich mich zu Matt.
»Ist er eigentlich immer so ...« Ich suche nach einem Wort, das nicht zu nüchtern, aber auch nicht zu unhöflich ist, um Alex zu beschreiben. Immerhin ist er Matts Bruder, da kann ich unmöglich fragen, ob Alex schon immer so ein arroganter, egoistischer, dickköpfiger und schadenfroher Vollarsch war. Außerdem hat er mir das Leben gerettet, zwei Mal.
»... arrogant, unhöflich, sarkastisch, egoistisch?«, beendet Matt meinen Satz, als ich immer noch grübelnd ins Leere starre.
»Ja!« Ich lache und blicke ihn überrascht an. »Genau.«
»Nein. Er kann auch gute Zeiten haben ... manchmal«, sagt Matt und lacht ebenfalls. Es ist ein umwerfendes Lachen, das mich jedes Mal einfach umhaut. Wie soll ich mich in seiner Gegenwart nur jemals konzentrieren? Oder in der von Alex, wenn er mich mit seinen dunklen Augen durchbohrt und ausnahmsweise mal den Mund hält oder nett zu mir ist. Matts grüne Augen funkeln mich einen Moment an und lassen mich darin versinken. Doch dann verfinstert sich seine Miene und er blickt mich ernst und besorgt an.
»Wie geht's dir, Lucy? Ich meine nicht nur körperlich. Wie geht's dir mit alldem?«
»Es geht ... Ich versuche immer noch, alles zu verstehen, es ist ... ziemlich viel auf einmal.«
»Ich weiß. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es für dich sein muss. Von einem Tag auf den anderen wurde deine ganze Welt auf den Kopf gestellt.«
»Ja.« Ich denke an die Zeit zurück, in der alles noch normal war. Dad und ich aßen Pancakes in der Früh, ich ging zur Schule, traf Hannah und Ruth, konnte mir über normale Teenager-Dinge Sorgen machen ... Die Welt schien noch in Ordnung. Aber eigentlich war sie das noch nie und ich war auch noch nie normal, wie mir nun schmerzhaft bewusst wird. Und meine Mum ... habe ich wohl jahrelang zu Unrecht verurteilt.
»Wann kann ich wieder nach Hause?«, frage ich, als sich ein plötzlich aufkommendes Heimweh in mir breitmacht. Und ein schlechtes Gewissen wegen meines schrecklichen Verhaltens, als Dad mir erzählen wollte, was ich wirklich bin.
»Das wird wohl nicht so schnell gehen«, murmelt Matt und sieht mich mitleidvoll an.
»Was soll das heißen?«
»Du musst wissen, dass jeder Engel sozusagen ein Signal aussendet. Man spürt, wenn ein anderer Engel in der Nähe ist und man spürt auch die Dämonen, was umgekehrt genauso funktioniert. Da der Engel in dir unterdrückt wurde, warst du für die Dämonen unsichtbar, aber seit du deine Flügel hast, ist das nicht mehr der Fall. Sie würden dich finden und sofort töten. Einer hat das sogar schon versucht. Aber innerhalb dieser Mauern bist du in Sicherheit.«
»Na toll! Dann trage ich also eine riesige Zielscheibe um den Hals.« Ich schnaufe und verschränke die Arme vor der Brust.
»Ja, so kann man das auch sagen.«
»Deshalb kann er mich nicht besuchen kommen«, schlussfolgere ich.
»Richtig.«
»Also gut, Dick und Doof. Seid ihr bereit?«, ruft Alex von der Tür aus.
»Wofür?«, frage ich und fühle eine leichte Nervosität in mir aufkommen.
»Wir zeigen dir die Schule, was sonst?«
Matt und ich machen uns auf den Weg zu Alex und verlassen mit ihm gemeinsam die Bibliothek. Mir fällt auf, dass ich bis jetzt wohl immer blind durch die Schule gegangen bin, da ich, wie es mir vorkommt, alles zum ersten Mal sehe. Vor der Bibliothek erstreckt sich ein breiter steinerner Gang mit großen Fenstern auf der rechten Seite, die auf den Hof zeigen. Links kommen wir an einigen verschlossenen Türen vorbei, auf denen in goldenen Buchstaben steht, was sich dahinter befindet. Speisesaal, Krankenstation, Aufenthaltsraum ... Am Ende des Gangs stoßen wir auf eine zweiflügelige Tür auf der »Unterkünfte und Trainingssäle« steht.
»Voila! Home sweet home!«, sagt Alex und schwingt stolz die Türen auf. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich stehe inmitten eines riesigen Saals, der zwar altmodisch eingerichtet ist, aber trotzdem unglaublich luxuriös aussieht. In der Mitte steht ein langer Tisch mit einem Kristallluster darüber. An den Wänden sind bequeme rote Sofas aufgestellt mit kleinen Tischchen daneben. Die meterhohen Fenster bringen unglaublich viel Licht ins Zimmer und werden gesäumt von wunderschönen roten Vorhängen. Und der Kamin an der Wand, in dem ein Feuer lodert, schenkt dem Raum eine heimelige Atmosphäre. Links und rechts sind weitere Türen. Die eine führt zum Trainingssaal und eine weitere Tür ist mit »Schlafsäle Mädchen« beschriftet. Ich fühle mich, als wäre ich in Hogwarts gelandet. Fehlen nur noch die sich bewegenden Bilder.
»So, da wären wir. Das ist dein zu Hause für ... naja für länger ...« Alex hält mir die Tür auf und überlässt mir den Vortritt. Eine schmale steinerne Wendeltreppe führt zu den Zimmern hinauf. Oben angekommen erstreckt sich links und rechts ein so langer Gang, dass ich das Ende nicht mal sehen kann. Wie groß ist die Schule bitteschön? »Du bist in Zimmer 524«, sagt Alex und deutet nach links. Ich schaue an die erste Tür und stutze. 156.
»524? Da gehe ich ja 20 Minuten bis zu meinem Zimmer!«, stelle ich empört fest.
»Für gewöhnlich gehen wir nicht, weißt du«, fügt Matt hinzu und lächelt mich an.
»Was?« Diese Frage ist wohl überflüssig, wie mir im selben Moment bewusst wird. Sie sind Engel, warum sollten sie laufen, wie gewöhnliche Menschen?
»Was glaubst du denn, wieso alle Räume so hoch sind?«, fragt Alex, der den Kopf schüttelt. »Und ich habe geglaubt, du wärst nicht so schwer von Begriff!« Ich schaue ihn wütend an.
»Das ist alles neu für sie Alex! Wie soll etwas für sie selbstverständlich sein, wenn ihr bis vor Kurzem noch nicht klar war, wer sie eigentlich ist?«, verteidigt Matt mich.
»Okay, schon gut.« Alex atmet tief durch. »Na schön, macht ihr zwei das zu Ende und kommt dann in den Trainingsraum, ich warte dort auf euch«, fügt er noch hinzu und verschwindet schon auf der Wendeltreppe.
»Warte Alex«, ruft Matt ihm nach und rennt ebenfalls die Treppe hinunter. Ich schleiche hinterher und versuche zu lauschen. Normalerweise tue ich sowas kindisches nicht mehr – das bei meinem Dad und Martha war definitiv ein Zufall – aber nachdem meine Welt gerade vollkommen auf dem Kopf steht, will ich unbedingt jedes kleinste Detail erfahren. Vor allem die Details, die ich nicht wissen soll.
»Wann wollen Mary und Jo sie sehen?«, höre ich Matt fragen.
»Wir sollen nach dem Training zu ihnen kommen«, antwortet Alex.
»Ist es wirklich klug, heute schon mit dem Training anzufangen?«
»Uns läuft die Zeit davon, kleiner Bruder! Jede Sekunde, die wir verschwenden, wird wahrscheinlich irgendwo auf der Welt ein Engel getötet!«
Ich atme erschrocken auf, als mir bewusst wird, dass ich in absehbarer Zeit selbst mit einem Dämon werde kämpfen müssen. Kaum vorzustellen, mich noch einmal so einem Monster zu stellen. Ich weiß nicht, ob ich stark genug dafür bin.
»Ja ... du hast recht ...« Ich höre, wie Matt wieder hinaufkommt, und gehe schnell ein paar Schritte zurück. »Los gehts!«
»Aber ich kann nicht fliegen«, sagte ich, als Matt wieder neben mir steht.
»Ja, aber ich.« Er grinst schadenfroh, was mich sehr beunruhigt.
»Oh nein! Nein nein nein! NEIN!«, rufe ich schockiert. »Ich werde mich doch nicht von dir tragen ... ähm fliegen lassen! Das kannst du vergessen!«
Matt kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und grinst immer noch spitzbübisch.
»Nein. Warte.« Ich muss lachen und ergreife schnell die Flucht. Weit komme ich allerdings nicht, bevor er mich plötzlich an der Taille packt und ich den Boden unter Füßen verliere. Ich schreie kurz auf, als er mich hochhebt und wir drei Meter über dem Boden schweben. Mich überkommt eine leichte Panik als ich so weit oben schwebe.
»Hey, entspann dich«, sagt Matt, der durch mein Gezappel ein wenig an Höhe verloren hat. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schaue ihn mit aufgerissenen Augen an.
»Entspannen??? Meinst du das ernst?«
»Sag mir bitte nicht, dass du Höhenangst hast.«
Ja, das wäre in der Tat ungünstig... »Nein, aber Angst von drei Metern auf den Boden zu krachen, habe ich schon!«
Er lacht und steigt noch weiter auf. Jetzt sind es bestimmt mehr als drei Meter.
»Bitte lass mich nicht fallen!«, flehe ich, da er mich nur an der Taille festhält.
»Ich würde dich niemals fallen lassen«, flüstert er mir ins Ohr. Ich habe nicht einmal die Kraft, mich über dieses romantische Versprechen zu freuen. Ich spanne jeden Muskel meines Körpers an und kneife die Augen zusammen, als er an Geschwindigkeit gewinnt. Der Zugwind streicht mir sanft durch die Haare, während mein Körper durch die Luft zischt. Vorsichtig versuche ich, die Augen zu öffnen. Die Zimmertüren fliegen an uns vorbei. Langsam entspannen sich meine Muskeln. Ich breite meine Arme aus und fühle, wie die anfängliche Angst sich nach und nach verflüchtigt. Ich fühle mich einfach frei. Als hätte ich nie etwas anderes getan, als zu fliegen. Wow... es ist einfach wundervoll. Nur wenige Augenblicke später setzt Matt mich vor der Tür 524 ab.
»Was? Das wars schon?«
»Dann hat es dir doch gefallen?«, fragt Matt lächelnd.
»Hm ... ein wenig«, gebe ich zu und grinse. Erst jetzt werfe ich einen Blick auf seine Flügel. Sie sind genauso lang wie er. Die beiden sehen aus wie ein Traum aus Weiß und sind genau wie bei Alex mit Federn bedeckt. Nur schienen Alex' Flügel irgendwie strahlender zu sein ... Keine Ahnung, vielleicht ist das auch nur eine Frage des Lichts. Ich öffne meine Zimmertür und befinde mich in einer kleinen Wohnung. Es gibt ein Wohnzimmer mit Sofa und einem Fernseher. Links führt eine Tür zu einem Schlafzimmer, das schon bewohnt aussieht und eines, das noch völlig leer ist – das ist dann wohl mein Zimmer. Außerdem gibt es ein schönes kleines Bad und sogar eine Mini-Küche.
»Das ist ja der Wahnsinn!«
»Ja, so habe ich auch reagiert«, seufzt Matt und sieht sich um. »Okay, also es sind ein paar Sachen von dir hier, die dein Vater hergeschickt hat. Du kannst in Ruhe auspacken und dich eingewöhnen. Ich hole dich dann in einer halben Stunde wieder ab und begleite dich in den Trainingssaal zu Alex.«
Ich nickte kurz. »Oh ... und vielleicht solltest du etwas Passenderes anziehen«, fügt er noch schnell hinzu, ehe er zur Tür hinaus geht.
»Warte!«, rufe ich ihm hinterher. »Was meinst du mit etwas Passenderes? Was erwartet mich denn?«
»Du bekommst deine erste Trainingsstunde«, ruft er über den Gang, dann erhebt er sich in die Luft und schießt davon. Ich schließe die Tür hinter mir und lasse mich in meinem Zimmer aufs Bett fallen. Ich kann das alles immer noch nicht glauben. Es fühlt sich so unecht an, als würde ich im nächsten Moment aufwachen und alles war nur ein Traum. Doch die Sache ist die, ich will nicht, dass es nur ein Traum ist. Ich mache mich an die Arbeit, meine Sachen auszupacken und wundere mich, was mein Vater alles gefunden hat. Wahrscheinlich war es Martha, die meine Sachen gepackt hat. Mein Dad würde nie wissen, wo er meine Schminktasche suchen sollte oder wo ich mein Tagebuch versteckt habe. Ich atme erleichtert aus, als ich sehe, dass Martha es mit eingepackt hat. Sie weiß, wie viel mir das bedeutet. Meine Mom schenkte mir mein erstes Tagebuch zum Geburtstag, kurz bevor sie verschwand. Sie sagte, ich solle es mit meinen Gedanken und Erlebnissen füllen, so könne ich nie etwas vergessen. Eigentlich komisch, dass ich Sarah unbedingt aus meinem Leben raushaben wollte und trotzdem das Tagebuchschreiben beibehalten habe. Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich es hier habe, und lege es sofort in die Lade von meinem Nachttisch, der direkt neben meinem Bett steht.