»Wo warst du? Wir haben dich die ganze Pause lang gesucht!« Hannah stürmt im Gang auf mich zu. Ruth kommt ihr hinterher und grinst amüsiert. Meine Gedanken kreisen immer noch um Alex, der mich schon wieder einfach so abgeschüttelt hat. Warum sagt er mir nicht, was das war, dass er für mich getötet hat? Dann würde ich ihn auch nicht mehr damit nerven.
»Hallo? Erde an Lucy!«, ruft Han und wedelt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum.
»Ich war im Hof mit Matt«, sage ich schnell und sehe die beiden gedankenverloren an.
»Wirklich? Was habt ihr gemacht?«, fragt Ruth neugierig und grinst mich vielsagend an.
»Nicht das, was ihr gerade denkt, so viel steht fest!«
Han kichert und stupst mich in die Seite. »Och, Spielverderberin!«
»Weißt du, manchmal verstehe ich dich wirklich nicht, Han! Vorhin sagst du mir noch, dass ich mich nicht in seine Arme werfen soll und dann nennst du mich eine Spielverderberin, weil ich nicht im Hof mit ihm geknutscht habe?«
»Wow, das muss ja eine ungemein romantische Situation gewesen sein, deiner Laune nach zu urteilen!«, wirft Ruth ein und betrachtet mich fragend. Ich lasse schniefend den Kopf sinken und spiele mit dem Gedanken ihnen alles zu erzählen. Dass ich verfolgt wurde, beinahe getötet worden bin und mich dieser verboten heiße Bruder von Matt gerettet hat, mir aber jetzt nicht sagen will, wovor. Aber das geht nicht. Erstens weil sie mir ohnehin nicht glauben würden und zweitens hat Alex sich Sorgen gemacht, ich könnte es weitergesagt haben. Vermutlich würde das eine Panik auslösen, wenn ans Licht kommt, welche Kreaturen bei uns ihr Unwesen treiben.
Oh Gott! Heißt das, ich glaube, was ich gesehen habe und weiß nun, dass es auch andere Dinger auf der Erde gibt? Halleluja! Ich dachte, sowas passiert nur in Geschichten!
»Nein, es ... war schön.«
»Irgendwo habe ich mal gelesen, dass nichts, was vor einem Aber kommt, wirklich eine Rolle spielt«, sagt Han spielerisch und zwinkert mir vielsagend zu.
»Aber du verwirrst mich. Mal wieder!«
»Ich weiß, Lu. Ich verwirre jeden!« Sie hakt sich bei mir ein und will mich in die Klasse ziehen.
»Warte! Was soll ich denn eurer Meinung nach jetzt tun? Mich von ihm fernhalten oder...«
»Lu, du bist ja völlig durcheinander!«, meint Ruth und schubst Han ein wenig zur Seite. »Sie wollte dir nur sagen, dass du zuerst herausfinden solltest, ob er wirklich gut für dich ist. Aber wenn du dir dessen sicher bist und du ihn gern hast, dann folge einfach deinen Instinkten. Du hast ein gutes Gespür für Menschen, du würdest es bemerken, wenn er dich nur ausnutzen will.«
Hannah nickt zustimmend. Ich verziehe schmunzelnd das Gesicht und sehe die beiden verunsichert an.
»Ach, habe ich das? Ein gutes Gespür für Menschen?« Ich bin meiner Meinung nach nun wirklich die Letzte, die ein gutes Gespür für Menschen hat!
»Ja, immerhin hast du mich als Freundin genommen!« Han lacht und schleift mich schließlich in die Klasse. Ruth verdreht nur die Augen und geht uns hinterher.Auf dem Nachhauseweg ertappte ich mich dabei, wie ich gefühlte hundert Mal über die Schulter gesehen habe, obwohl ich genau weiß, dass der Ausdruckslose tot ist und nicht wieder kommt. Allerdings kann ich nicht mehr naiverweise davon ausgehen, dass er der Einzige dieser Art war, das macht mich verrückt! Ich muss Alex unbedingt alleine erwischen und ihn nicht gehen lassen, ehe er mir alle Einzelheiten erzählt hat. Als ich endlich vor der Haustür ankommen, bin ich fest entschlossen einfach in mein Zimmer zu gehen und bis morgen zu schlafen. Doch aus meinem Plan wird wohl nichts, denn hinter der Tür steht mein Vater und starrt mich an. Erschrocken bleibe ich stehen und spüre, dass mein Herz einen Satz gemacht hat.
»Dad! Warum erschreckst du mich so?« Meine ganze Müdigkeit ist von einer Sekunde auf die andere wie weggewischt, als ich in das bedrückte Gesicht von Frank schaue. Seine Miene ist wie versteinert und die Ringe unter seinen Augen verraten, dass er die ganze Nacht nur wenig oder überhaupt nicht geschlafen hat.
»Was ist los?«, frage ich leise und mache vorsichtig einen Schritt auf ihn zu.
»Wir müssen reden«, sagt er mit rauer Stimme. Plötzlich kommt mir wieder in den Sinn, dass er gestern schon so komisch drauf war und mein Herz beschleunigt sich. Einerseits brenne ich darauf, zu erfahren, was er vor mir verheimlicht, aber andererseits habe ich auch große Angst davor. Mein Vater lotst mich zur Couch im Wohnzimmer, wo ich mich völlig verkrampft neben ihn setze. Einige Minuten sieht er bloß auf seine Hände und schweigt. Eine so bedrückende Stille habe ich in diesem Haus noch nie gefühlt.
»Also ... worüber möchtest du sprechen?«, frage ich nach einer gefühlten Ewigkeit. Dad sieht mir nervös in die Augen. Die Angst fährt wie ein Tsunami in mich, sie kriecht aus allen Ecken meines Körpers und hindert mich am Atmen. Was auch immer er mir gleich sagt, ich hege die Befürchtung, dass es mir nicht gefällt. Wenn ich daran denke, wie es Dad fertigmacht, nehme ich sogar an, dass es bei mir wie eine richtige Bombe einschlägt.
»Über deine Mutter!«
BUM!
Das war ein schmerzhafter Schlag in die Magengrube. Habe ich mich verhört? Ihretwegen ist er so zerstört? Natürlich, wer sollte es denn sonst sein! Sie ist der Grund, weshalb ich mich oft in den Schlaf geweint habe. Wegen ihr hat Dad nie wieder so gelacht wie früher. Sie zerstörte unser Leben mit ihrem Abhauen und war auch für die folgenden Schäden verantwortlich. Und jetzt, wo wir endlich mal einigermaßen über sie hinweg sind, zieht sie wieder einen ihrer miesen Tricks aus dem Ärmel und versaut alles.
»Lucy, bitte schau nicht so wütend. Ich weiß, was du denkst ...«
»Nein, weißt du nicht! Du weißt gar nicht, wie ich für meine Mutter empfinde! Und ich lasse mich bestimmt nicht von ihr fertigmachen, so wie du! Du musst endlich mit ihr abschließen! Sie hat dich verlassen nicht umgekehrt! Sie dich! Uns! Und das ist ...«
»Sie ist tot!«, platzt es aus ihm heraus. Augenblicklich reißt Dad die Augen auf und dreht beschämt den Kopf weg. Er wollte es mir wahrscheinlich schonender beibringen. Doch dafür ist es nun zu spät. Ich halte inne und starre meinen Vater mit großen Augen an.
»Was?«, flüstere ich tonlos und halte die Luft an.
»Sarah ist tot«, wiederholt Frank deutlich sanfter und vergräbt das Gesicht in seinen Händen. Ich sacke auf der Couch zusammen.
»Wie?«
»Autounfall.«
»Und... wann?«
»Vor zwei Tagen.« Frank schafft es nicht, mir in die Augen zu sehen. Ich schlucke und stehe von der Couch auf, um nach oben zu flüchten. Schnell schnappe ich mir meine Schultasche und renne die Treppen hinauf. Mein Atem geht nur stoßweise, als ich gleich zwei Stufen auf einmal nehme.
Ein tiefer Schluchzer schießt an die Oberfläche, nachdem ich die Zimmertür hinter mir geschlossen habe und meinen Gefühlen freien Lauf lassen kann. Besser gesagt, um meine Gefühle ordnen zu können. Meine Mutter, die mich vor neun Jahren verlassen hat, ist vor zwei Tagen gestorben. Einerseits zerreißt es mir das Herz, zu wissen, dass ich nie wieder die Chance habe, ihr in die Augen zu sehen oder sie in den Arm zu nehmen, aber andererseits bin ich immer noch so wütend auf sie, weil sie uns verlassen hat, dass mein Körper keine Tränen zulässt. Ich habe nicht nur einmal darüber nachgedacht, nach ihr zu suchen, es dann aber nie getan. Mein Stolz und mein Schmerz waren zu groß dafür. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan. Ich hätte sie noch einmal gesehen und versucht, alles wieder gut zu machen.