Ich liege in einem bequemen Bett und bin bis zur Taille zugedeckt. Mein Kopf ruht auf einem weichen Kissen. Die Luft riecht nach Desinfektionsmittel und den gedämpften Geräuschen neben mir nach zu urteilen, bin ich nicht alleine. Langsam versuche ich, die Augen zu öffnen. Ich fühle mich wie nach einer Vollnarkose. Meine Glieder sind steif, meine Lider schwer und ich weiß im Moment nicht, was das Letzte ist, an das ich mich erinnern kann. Ich hatte ein Gespräch mit meinem Vater und Martha, dann war ich draußen und habe Alex getroffen und ... Plötzlich kommt alles wieder! Dieser Schmerz, ich lag am Boden und dann wurde ich ohnmächtig. Hektisch mache ich die Augen auf und versuche, mich an das helle Licht zu gewöhnen. Ich blinzle ein paar Mal, als plötzlich ein weibliches Gesicht über mir auftaucht und mich freundlich anlächelt. Sie sieht wunderschön aus, mit den braunen Haaren, die zu einem strengen Dutt zusammengebunden sind, den Augen, die mich smaragdgrün anleuchten und den Lippen, die von so natürlichem Rot sind, wie ich es noch nie gesehen habe. Es kommt mir vor, als würde sie strahlen. Oder ist das nur eine Nebenerscheinung vom weißen Licht?
»Du bist wach«, sagt sie freundlich und lächelt mich ruhig an.
»Wo bin ich? Bin ... bin ich tot?«
Das Mädchen, das nur ein paar Jahre älter zu sein scheint, schmunzelt mich amüsiert an. »Nein, aber du hattest wirklich Glück, dass dein Retter dich sofort hierher gebracht hat.«
»Mein Retter?«
»Ja, du hast einen fabelhaften Geschmack.« Sie kichert mädchenhaft und blickt über mich hinweg.
»Was?« Ich versuche, verzweifelt ihr zu folgen, aber mein Gehirn ist dafür noch zu ausgelaugt.
»Du bist wach!«, sagt auf einmal auch eine Männerstimme neben mir. Ich drehe mich um und schaue in ein Gesicht, das mein Herz wie wild schlagen lässt.
»Na, wie gehts dir?«
Ich setze mich so ruckartig auf, dass das Bett gefährlich wackelt und hole mit der Faust nach ihm aus. »Alex!«, rufe ich wütend und verängstigt zugleich und versuche noch einige Male, ihn zu erwischen. »Was hast du mit mir gemacht?«
»Ich?«, fragt er überrascht von meinem überstürzten Angriff. Voller Übermut springe ich aus dem Bett, um mich auf ihn zu stürzen, doch stattdessen geben meine Beine unter mir nach. Hätte Alex mich nicht aufgefangen und wieder ins Bett gesetzt, wäre ich gleich noch einmal umgekippt.
»Alles gut, beruhige dich Lucy!« Alex hält mich an den Schultern fest und sieht mich mit einer großen Portion Besorgnis an. Ich schlage unsanft seine Hände weg und lege mich schnaufend wieder hin, da sich meine Umgebung leicht zu drehen begonnen hat.
»Das gibts nicht! Ich bin tot! So muss es sein!«, murmle ich vor mich hin und fasse mir an den Kopf.
»Lucy, du bist nicht tot, was redest du da?«
»Na, in Wirklichkeit wärst du doch nie nett zu mir!«, schnauze ich ihn an.
»Weißt du, ich bin nicht so ein Arsch, wie du denkst! Nicht immer jedenfalls«, brummt er und weicht ein paar Schritte vor mir zurück, damit ich nicht noch eine Gelegenheit bekomme, ihm ins Gesicht zu schlagen. Ich verkneife mir einen blöden Kommentar, der die Stimmung noch mieser gemacht hätte und entscheide mich dazu, das Thema zu wechseln.
»Was hast du auf der Straße mit mir gemacht?«
»Ich habe gar nichts gemacht. Hör zu, ich werde dir alles erklären, aber zuerst musst du dich ausruhen. Das ist wichtig Lucy, du hast viel durchgemacht.«
Ich starre ihn mit offenem Mund an und kann kaum glauben, was er da gesagt hat. »Nein! Du wirst es mir jetzt erklären! Sofort!«
»Unglaublich!« Alex fährt sich mit den Händen übers Gesicht. »Ist das zu glauben?«, fragt er die Krankenschwester hinter mir und zeigt abwertend mit dem Finger auf mich.
»Du hast mir schon nichts von dem Mann, der mich angegriffen hat, gesagt! Aber jetzt wirst du sofort mit der Sprache rausrücken, Alex, oder ich schwöre ich ...«
»Was? Oder du greifst mich wieder an? Viel Glück dabei!«
Wütend drehe ich den Kopf weg und starre vor mich hin. »Wo bin ich überhaupt?«
»In der Schule«, antwortet die Krankenschwester beiläufig.
»Schule?? Ich werde ohnmächtig und du bringst mich in die Schule?!«, fahre ich Alex zornig an. Das hätte ich sogar von ihm nicht erwartet. Wie kommt man bloß auf die Idee, eine ohnmächtige Person statt ins Krankenhaus in die Schule zu bringen?
»Das ist doch nicht deine Schule! Du ... Okay, du lässt mir keine Wahl!«
Ich sehe ihn erwartungsvoll an und verschränke die Arme vor der Brust.
»Was weißt du über deine Mutter?«
Diese Frage überrumpelt mich komplett. Was ist das bloß mit meiner Mutter? Vor Sarahs Tod erwähnte niemand ihren Namen und jetzt plötzlich, wo sie nicht mehr lebt, weiß alle Welt über sie Bescheid und glaubt, mir irgendwas über sie erzählen zu müssen!
»Was soll das? Woher kennst du meine Mutter?!«, fauche ich und funkle ihn böse an.
»Bitte Lucy! Beantworte einfach meine Frage«, beharrt er. Einige Sekunden starre ich ihn einfach nur finster an und versuche, seine Absichten zu durchschauen. Nicht, dass es funktionieren würde, aber ich versuche es gerne immer wieder aufs Neue.
»Na schön! Sie war Friseurin und hat ihre Familie verlassen. Sie hat mir nie geschrieben, mich nie besucht und seit sie gegangen ist, habe ich nichts mehr von ihr oder über sie gehört. Zufrieden?« Ich weiß schon sehr lange, dass mir meine Mutter im Grunde völlig fremd ist, aber es laut auszusprechen, ist trotzdem jedes Mal wie ein Stich ins Herz.
»Hat dir dein Vater nichts über sie erzählt?«, fragt Alex verwundert und macht vorsichtig wieder einen Schritt auf mich zu.
»Naja, gestern hat er versucht, mir so eine verrückte Geschichte aufzutischen, weshalb ich so wütend war, dass ich in die Stadt gelaufen bin und dich getroffen habe!«
»Welche Geschichte?«
»Wieso willst du ...?«
»Sag es mir einfach!«, unterbricht er mich angestrengt.
»Von mir aus«, schnauze ich und setze mich langsam auf, damit ich ihn besser ansehen kann. So viel Zeit muss sein. Obwohl ich muss zugeben, dass ich mir extra viel Zeit lasse, um Alex zu ärgern. »Er sagte, dass sie ein Engel war und geholfen hat, die Dämonen in die Hölle zurückzubefördern, bevor sie die Erde verwüsten können ... oder so irgendwas ...«, erzähle ich genervt und tue so, als wäre es der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe. Dass ich selbst schon begonnen habe, zu glauben, dass dieser Typ, der mich angegriffen hat, einer anderen Spezies angehört, verschweige ich lieber.
»Gut, okay. Darauf können wir aufbauen.«
»Warte!«, unterbreche ich Alex' Selbstgespräch und wackel mit meinem Zeigefinger vor seinem Gesicht herum. »Du glaubst das doch nicht etwa! Oder?«
»Es ist die Wahrheit Lucy«, redet er mir, ohne eine Miene zu verziehen ein.
»Ja natürlich! Alex, du bist wirklich witzig, aber könntest du mir bitte endlich sagen, wo ich bin und was hier los ist! Und diesmal bitte die Wahrheit und nicht irgendeine Fantasiegeschichte, um mich abzulenken!«, fauche ich ihn wütend an.
»Lucy es ist wahr. Deine Mutter, Sarah, war ein Engel und zwar der beste, den es je gegeben hat!« Er setzt sich neben mich aufs Bett, was mir gar nicht recht ist. Ich rutsche näher zu meinem Kissen, um ein wenig auf Abstand zu gehen. Es macht mich schon unbehaglich, dass er plötzlich so nett zu mir ist und Geschichten von meiner Mutter erzählt. Noch dazu bin ich an einem unbekannten Ort in einem Krankenzimmer, in dem keine anderen Patienten außer mir liegen. Wer weiß, was sie hier mit mir vorhaben! Vielleicht hat Alex mich gekidnappt und mir irgendwelche Drogen verabreicht. Oh mein Gott ... ich will nicht sterben!
»Er hat recht. Sarah Hale ist hier eine Legende. Alle wollten so sein wie sie und wir hoffen natürlich, dass du nach ihr kommst. Wir können dringend eine zweite Sarah gebrauchen, um den Krieg zu gewinnen«, sagt die Krankenschwester plötzlich, die nun vor uns steht und mir lächelnd ein Glas mit durchsichtiger Flüssigkeit in die Hand gibt. Ich schaue nervös und verwirrt zwischen den beiden hin und her. Entweder ist das der Beginn eines Horrorfilms, in dem man mich irgendwo einsperrt oder ich bin im Irrenhaus. Ich für meinen Teil hoffe wirklich, es ist das Zweite.
»Okay ...«, sage ich und rutsche noch ein Stück von Alex weg, weshalb er mich mit zusammengekniffenen Augen betrachtet.
»Du wirkst leicht verstört«, sagt die Frau vor mir und schaut mich besorgt an.
»Ach nein! Ich bin doch nicht verstört! Wieso denn auch? Ihr versucht, mir nur weiszumachen, dass meine Mutter und ich Engel sind und durch die Gegend fliegen, um gegen Dämonen zu kämpfen. Noch dazu weiß ich nicht, wo ich bin und ... ich kenne euch nicht. Was wollt ihr eigentlich von mir?« Eigentlich wollte ich nicht ängstlich klingen, doch jetzt ziehe ich mit leicht zitternden Fingern ein Knie an meine Brust und starre die beiden an.
»Lucy, du musst keine Angst vor uns haben. Wir ... wollen dir nicht wehtun oder so, wir ...«, versucht, Alex mich zu beruhigen, was nicht recht zu funktionieren scheint.
»Ja? Was wollt ihr von mir? Soll ich jetzt auch noch für euch durch die Gegend fliegen?«, platzt es aus mir heraus. Wenn ich Angst habe oder gestresst bin, prasseln die Worte nur so aus meinem
Mund raus. Völlig ohne Kontrolle.
»Wie bringen wir diese sarkastische Ziege dazu, uns zu glauben?«, fragt Alex leicht angekratzt die Krankenschwester.
»Vielleicht beweisen wir es ihr ...«, erwidert diese und zuckt mit den Schultern.
»Du meinst, wir sollten ...«
»Ja.«
»Ähm ...«, unterbreche ich die beiden, »ihr wisst, dass ich anwesend bin, oder? Ich kann jedes Wort hören.«
Sie werfen mir einen kurzen, nichtssagenden Blick zu und machen damit weiter mich zu ignorieren. Ich schüttle perplex den Kopf, stelle die eigenartige Medizin, die ich nur über meine Leiche anrühre, auf den Nachttisch und lasse mich wütend in mein Kissen fallen. Mal ehrlich ... selbst wenn sie mir die Wahrheit sagen wie ist denn sowas überhaupt möglich? Es gibt kein Gut und Böse, keinen Himmel und keine Hölle. Das ist alles nur erfunden worden, um den Menschen einerseits Angst und andererseits Hoffnung zu machen, dass der Tod nicht das Ende ist. Ich halte von Religion und Gott ohnehin nicht viel. Wenn es wirklich so etwas wie einen Gott gäbe, wo ist er dann in schlechten Zeiten, wenn Krieg herrscht oder tausende Menschen ihr Zuhause verlieren? Sarah war sehr religiös. Früher war ich so wie sie. Ich glaubte an all das und meine Mum erzählte mir wunderbare Geschichten von Engeln. Aber als sie uns verlassen hat, nahm sie meinen Glauben mit und er kehrte nie wieder zu mir zurück. Genauso wie sie.
»Also ...«, sagt Alex und rüttelt mich aus meinen Gedanken. »Komm mir. Wir wollen dir etwas zeigen.« Er steht auf und reicht mir seine Hand.
»Und du willst mich nicht fesseln, knebeln und einsperren?«, frage ich zur Sicherheit noch einmal nach. Alex verdreht die Augen und schüttelt leicht grinsend den Kopf. Nach ein paar Sekunden Bedenkzeit, nehme ich schließlich seine Hand und lasse mir von ihm hochhelfen.
»Wow warte!«, rufe ich und sehe empört an mir herab. Ich trage nicht mehr meine Sachen, sondern ein weißes Krankenhaus-Nachthemd, das zu meinem Bedauern recht durchsichtig ist. Zumindest meine schwarze Unterwäsche leuchtet durch, was mir in Alex' Gegenwart ziemlich unangenehm ist.
»Wer hat mich umgezogen?« Hektisch versuche ich, irgendwie meine Unterwäsche zu bedecken. Alex grinst mich spitzbübisch an und betrachtet mich gierig von oben bis unten. Ich schlucke. »Bitte sag mir nicht, dass du ...«
Alex' Grinsen wird breiter, bevor ich die Frage aussprechen kann. Plötzlich hebt die Krankenschwester neben uns lächelnd die Hand. »Ich war es. Keine Sorge, er kam nicht einmal in die Nähe.«
»Gut, ich hatte schon befürchtet, dass er ...« Ich zeige auf Alex und rümpfe die Nase. Kaum vorstellbar!
»Keine Sorge. Du bist nicht mein Typ.« Er grinst mich immer noch unverändert an.
»Ach nein?«
»Obwohl du ... doch sehr schön anzusehen bist ...«, fügt er hinzu und lässt seinen gierigen Blick erneut über mich schweifen.
»Hör auf damit!«, rufe ich und schlage ihm gegen die Brust.
»Na komm jetzt«, sagt Alex und sieht mir wieder normal in die Augen.
»Nein! Ich muss mir erst etwas anziehen! Wo sind meine Sachen?«
»Hey Melanie, könntest du Lucy bitte ihre Sachen geben, damit wir heute noch fertig werden«, sagt Alex zur Krankenschwester, die anscheinend Melanie heißt.
»Natürlich.«
»Aber beeilt euch, es gibt noch viel zu tun heute«, ruft er uns hinterher, während Melanie mich durch den Raum schiebt. Erst jetzt fällt mir auf, wie groß diese Krankenstation ist. Überall stehen Betten wie meines, getrennt durch weiße Vorhänge. Generell ist der Raum sehr schlicht in Weiß gehalten. Keine Bilder, keine Dekorationen, nur ein paar Lampen an den Decken und Nachttische neben den Betten. Sofern man das als Dekoration bezeichnen kann. Auf der anderen Seite des Raumes ist eine kleine Kabine mit ebenfalls einem weißen Vorhang. Sehr kreativ ist man ja nicht an die Einrichtung dieser Station herangegangen. Melanie gibt mir meine Sachen, die verwunderlicherweise gewaschen und gebügelt aussehen.
»Hey Mel ... darf ich dich Mel nennen?«
»Natürlich.«
»Wurden meine Sachen gewaschen?«
»Sicher, du hast ja sonst nichts hier, deshalb dachten wir uns, du brauchst sie noch. Die waren ziemlich verdreckt«, sagt sie, während sie mich in die Kabine schiebt und den Vorhang vor mir zuzieht. Ich erinnere mich, dass Martha zu mir sagte, dass das Waschen, Trocknen und Bügeln mindestens einen Tag beansprucht. Stirnrunzelnd starre ich auf den gebügelten Haufen Wäsche und ahne schon das Schlimmste.
»Wie lange bin ich schon hier?«, frage ich und schlüpfe aus dem Nachthemd.
»Alex hat dich am Mittwoch gebracht ...«, erwähnt sie beiläufig.
»Aha ... und heute ist was? Donnerstag?«
»Nein, heute ist ... Samstag ...«
»Was?!«, schreie ich und ziehe den Vorhang so schnell auf, dass er nach hinten schnepft. »Ich bin seit drei Tagen hier?«
»Ja. Du warst bewusstlos. Dein Körper musste sich erst auf dein neues Wesen einstellen, vor allem da ...« Mel bricht ab, als sie meinen hysterischen Blick sieht. »Ähm ... vergiss es.«
»Nein!«, sage ich empört, »Du kannst nicht sowas sagen und dann von mir verlangen, dass ich es vergessen soll!« Ich fahre mir mit beiden Händen angestrengt und überfordert durch die Haare. Mein Herz hämmert so laut, dass Mel es mit ziemlicher Sicherheit auch hören kann und in meinem Körper breitet sich auf einmal eine so mächtige Hitze aus, dass ich beginne mein Shirt zu wedeln.
»Okay ...«, sagt Mel langgezogen und sieht sich hilfesuchend um, »Du drehst gerade ein bisschen durch. Gehen wir zurück zu Alex, der kann mit sowas besser umgehen.«
Ich bin im Moment sogar so geschockt, dass ich nicht einmal wegen dieser Aussage die Augen verdrehen kann. Melanie schleift mich durch den Raum zurück zu meinem Bett, wo Alex auf uns wartet. Von diesem Rückweg bekomme ich nur wenig mit, da ich zu aufgewühlt und verwirrt bin, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
»Alles in Ordnung?«, will Alex wissen, der besorgt auf mich hinabsieht. Ich fühle mich nicht in der Lage zu sprechen, deshalb schüttle ich nur den Kopf. Ich schlinge meine Arme um mich, als mein Körper unkontrollierbar zu zittern beginnt.
»Alles klar. Du brauchst ein wenig frische Luft, komm mit.« Alex nimmt mich bei der Hand, was mir gerade herzlich egal ist und führt mich aus der Krankenstation. Seine andere Hand stützt meine Taille, während wir nach draußen gehen, wofür ich ihm momentan sehr dankbar bin. Ich weiß nicht, ob meine zitternden Beine in der Lage gewesen wären, mich von alleine zu halten. Ich spüre, wie ein kalter Luftzug mir die Haare aus dem Gesicht weht, als wir draußen ankommen. So gierig, dass ich beinahe daran ersticke, atme ich die frische Luft ein. Alex bleibt ein paar Sekunden schweigend neben mir stehen und beobachtet mich. Der Schrecken wird einfach nicht besser. Die Luft bleibt mir im Hals stecken und würgt mich beinahe. Aus meinen Augen rollen plötzlich Tränen, die so heiß sind, dass sie auf meinem Gesicht zu brennen beginnen. Ich will nach Luft schnappen, aber sie dringt nicht in meine Lunge. Erschöpft und voller Panik falle ich ins Gras und schlage meine Hand auf mein Herz. Alex versucht, mir zu helfen und ruft mir etwas zu, doch ich höre ihn kaum. Meine Umgebung beginnt vor mir zu verschwimmen. Bald werde ich noch einmal in Ohnmacht fallen, das kann ich nicht aufhalten. Plötzlich, ohne Vorwarnung, drückt Alex seine Lippen auf meine und hält mich fest. Ich reiße meine Augen auf und halte vor Überraschung die Luft an. Als das, was gerade passiert, in mein benebeltes Gehirn vordringt, stoße ich ihn schnell von mir.
»Hast du sie noch alle?«, frage ich heiser und wische die Tränen von meinem Gesicht.
»Das war notwendig. Du hattest eine Panikattacke, die wird man am besten los, wenn man die Luft anhält und das war der schnellste Weg«, versucht er sich zu rechtfertigen und rutscht ein Stück von mir weg. Ich starre ihn verblüfft an.
»Du bekommst wieder Luft oder?«, fragt er und streicht mir behutsam eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Ja ...«
»Gut.«
»Aber ... du musst mir einiges erklären, weil ... weil ich das nicht mehr aushalte ...«, hauche ich und bekomme schon wieder glasige Augen. »Ich ... ich habe meine Mutter verloren, mein Vater will mich wegschicken und redet mir irgendeine blöde Geschichte ein, dann treffe ich dich in der Stadt und breche unter riesigen Schmerzen zusammen. Du bringst mich hierher, an diesen merkwürdigen Ort und redest dann genauso verrückt wie mein Vater. Ich bin schon seit drei Tagen hier und ... oh Gott! Mein Vater! Er macht sich bestimmt riesige Sorgen um mich. Ich muss ihn anrufen. Ich muss ...«
»Lucy!« Alex fasst mich an den Schultern und bringt mich wieder zum Stillstand. »Tief einatmen«, sagt er und ich folge seinem Rat. »Und ausatmen.« Ich werde wieder ruhiger und sehe, dass er mich leicht anschmunzelt.
»Dein Vater weiß, dass du hier bist. Mach dir keine Sorgen, ich habe ihn sofort nach deiner Ankunft hier kontaktiert.«
»Wieso ist er nicht hier?«, flüstere ich, während noch eine Träne ihren Weg nach draußen sucht.
»Die Schule ist für ihn tabu.« Nachdenklich runzle ich die Stirn und versuche seine Worte, zu verstehen.
»Warum ist die Schule ... warte! Schule? Die Schule, von der mein Dad geredet hat?«
Alex nickt und setzt sich zu mir ins Gras. »Gut, hör zu. Ich weiß, dass die letzte Woche sehr schwierig für dich war. Ich will dir alles erklären, aber du musst mir auch glauben, sonst nützt das nichts.«
»Willst du mir also wieder sagen, dass ich ein Engel bin? Dann kann ich dir nämlich nicht glauben, es tut mir leid.«
»Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass der Mann, der dich angegriffen hat, ein Dämon war?«
Ich hole Luft, um ihm zu sagen, dass das völliger Schwachsinn ist, halte aber inne, als mir wieder in den Sinn kommt, was ich gesehen habe. Das war alles andere als normal. »Ich weiß nicht ...«
»Willst du es wissen?«
»Du weißt, dass ich wissen will, was mich angegriffen hat! Das versuche ich schon seit Tagen von dir herauszubekommen!«
»Okay, dann schau gut zu.« Alex steht auf und lächelt, bevor ohne Vorwarnung weiße, große Flügel aus Alex' Rücken schießen. Das sprengt eindeutig meine Vorstellungskraft. Lange, zarte Federn bedecken seine ganzen Flügel und streifen leicht den Boden, wenn er steht. Sie sehen zerbrechlich und kräftig zugleich aus, aber vor allem sind sie wunderschön.
»Wow ...«, flüstere ich und bekomme den Mund nicht mehr zu.
»Glaubst du mir jetzt?«, fragt er und grinst zufrieden vor sich hin.
»Mhm ...«, murmle ich und starre ihn immer noch schamlos an.
»Gut, dann kann die Geschichtsstunde ja beginnen«, meint er und faltet seine Flügel wieder am Rücken zusammen, bis sie gänzlich verschwunden sind. So, als wären sie nie da gewesen.