Langsam mache ich die Augen auf.
Ich will einen Blick auf meinen Wecker werden, als mir auffällt, dass ich nicht in meinem Zimmer bin. Das Bett, auf dem ich liege, steht in einem prachtvollen Zimmer, das so groß ist, wie der ganze Trainingssaal der Schule. Überall stehen unglaublich alte und teure Gegenstände rum, wie man sie sonst nur im Museum zu Gesicht bekommt. Durch die Fenster dringt kein Licht herein. Draußen herrscht eine erdrückende Dunkelheit, aber drinnen werfen die unzähligen brennenden Kerzen einen goldenen Schimmer auf die Möbel. Ich stehe auf, um mich umzusehen, als ich meinen Schlafanzug bemerke. Eigentlich bin ich nach dem Gespräch mit Mary und Jo sofort mit meiner Jean und dem Shirt eingeschlafen, aber nun schmiegt sich ein prachtvolles, goldenes Seidenkleid an meinen Körper. Es ist wie für mich gemacht. Ich drehe mich einmal im Kreis und lächle, als der Stoff sich leicht im Wind bewegt. In jeder Ecke des Zimmers stehen prachtvolle Gegenstände. Der ganze Raum erinnert mich an ein Schloss, das ich mit der Schule einmal besichtigt habe. Auf der anderen Seite des Zimmers befindet sich ein großer Schminktisch mit einem Gold verzierten Spiegel. Ich setze mich davor und nehme die Bürste in die Hand. Als mein Blick auf den Spiegel vor mir fällt, schrecke ich zurück. Ich wäre fast vom Stuhl gefallen, wenn ich mich nicht in letzter Sekunde am Schminktisch festgehalten hätte. Irgendjemand muss mich wohl geschminkt haben, denn ich sehe aus, als würde ich zu Fasching als Cleopatra gehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das genauso ein merkwürdiger Traum ist, wie die Wüste, als ich meine Mum gesehen habe. Da es sich aber nicht so anfühlt, als würde ich in nächster Zeit hier wegkommen, beschließe ich, mich weiter umzuschauen. Am Schreibtisch finde ich einen Umschlag, auf dem in schöner Schrift ein Name steht. Mira. Wer ist Mira? Ich runzle die Stirn und öffne den Umschlag neugierig. Ich weiß, man sollte nicht in den persönlichen Dingen von anderen herumschnüffeln, aber im Grunde träume ich ja nur, also was solls?Meine liebe Mira!
Deine Eltern und ich sorgen uns sehr um dich. Wir finden, dass du deine Forschungen und Experimente aufgeben und dich stattdessen wieder deiner Familie widmen solltest. Die Mysterien und Geschichten, die du erforschst, sind mit dunkler und böser Magie befleckt. Du, als Hexe des Lichts, die du schon immer warst, darfst dich mit dieser nicht beschäftigen! Dies kann sehr gefährlich sein! Und was sind all deine Bemühungen hinter das Geheimnis zu kommen schon wert, wenn es dich letztendlich umbringt?
Ich rate dir nun, als dein Großvater, dass du dich nicht weiter mit diesen Sachen abgibst. Solltest du meinem Rat jedoch nicht Folge leisten, fühle ich mich dazu gezwungen zu strengen Maßnahmen zu greifen, was ich nicht gewillt bin zu tun. Überlege gut, was du tust!In Liebe, dein Großvater James
Na wenn das mal kein merkwürdiger Brief eines Großvaters ist. Anscheinend bin ich in Miras Zimmer gelandet. Wenn ich dem Brief trauen kann, war sie eine Hexe des Lichts – das bedeutet wohl, dass sie auf der Seite der Engel stand. Ich frage mich, was so böse und finster ist, dass es sie hätte umbringen können. Ich grabe weiter, schaue in jede Schublade, in jeden Schrank. Ich durchforste das ganze Zimmer von oben bis unten, aber außer diesem mickrigen Brief, finde ich nichts. Nicht mal weitere Kleider. Wo sind bloß alle ihre Sachen?
Mich übermannt die Neugier, als ich die zweiflüglige Tür öffne und nach draußen gehe. Vor mir erstreckt sich ein langer Gang, der nicht weniger prachtvoll ist, als Miras Zimmer. Ich gehe zu einer Treppe, die ins Erdgeschoss führt. Ein riesiger Saal, der zu weiteren glanzvollen Sälen führt, erstreckt sich vor mir. Ich sehe mich um. Unter der Treppe, fast versteckt, befindet sich eine kleine Tür, die nicht zu dem luxuriösen Bild passt. Ich gehe auf sie zu und drücke die Türschnalle nach unten. Verschlossen. Das hätte ich mir denken können. Ich fasse in meine Haare und finde eine Haarnadel in meinem Dutt, mit der ich versuchen kann, das Schloss zu knacken. Zwar habe ich das noch nie zuvor getan, aber etwas in mir sagt, dass ich es diesmal hinbekomme. Etwas zieht mich dorthin. Als wollte eine unsichtbare Kraft, mir etwas zeigen, deshalb weiß ich, dass ich nicht scheitern kann. Nach nur wenigen Versuchen entriegelt sich die Tür und schwingt nach innen auf. Im Inneren ist es dunkel und schmutzig. Die Steinwände sind von Spinnweben umgeben und eine kleine Treppe führt noch weiter in das schwarze Loch hinab. Ich schlucke und bekomme eine Gänsehaut, bei dem Gedanken dort hinunter zu gehen. Aber ich habe keine Wahl. Ich muss wissen, was Mira erforscht hat. Ich schnappe mir eine der Fackeln, die an der Wand hängen und steige mit meinem wunderschönen Kleid die dreckigen Stufen hinab. Wenn ich nicht wüsste, dass ich in Wirklichkeit immer noch in meinem Bett in der Schule liege, hätte nicht den Mut, wie im Horrorfilm, in ein schwarzes Loch zu steigen. Schnell werfe ich einen Blick zurück und bemerke erleichtert, dass die Tür noch offen steht. Ich gebe mir einen Ruck und gehe eilig die Stufen nach unten, um das so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Links und rechts von mir erstrecken sich zwei Reihen mit unendlich vielen Zellen. Das muss sowas wie ein Kerker sein. Ich gehe immer weiter in den Tunnel. Ich weiß nicht, was mich mehr beunruhigt. Die Tatsache, dass ich in diesem Schloss noch keine Menschenseele gesehen habe oder dass ich in einem dunklen, verlassenen Kerker herumspaziere und keine Ahnung habe, was noch auf mich zukommt. Am Ende des Gangs befindet sich eine weitere Tür, auf der »Zutritt verboten« steht, was für mich nur ein Grund mehr ist, einzutreten. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, hinter der Tür zu finden, aber das bestimmt nicht. Auf zwei großen Stahltischen liegen dutzende Bücher, Schriftstücke und mittelalterliche Geräte verteilt. Im Gegensatz zu den anderen Zimmern, die leer sind, herrscht in diesem Raum das reinste Chaos.
Ich überfliege die Titel der Bücher und betrachte neugierig die Gerätschaften. »Dunkle Magie« »Mystische Türen und Portale« »Die Unterwelt«
Miras Forschung hatte also etwas mit der Unterwelt zu tun. Deshalb machte sich ihr Großvater auch Sorgen. Sie war eine Hexe des Lichts und befasste sich mit dunkler Magie und der Unterwelt. Aber was wollte sie herausfinden? Bevor ich dazu komme, mir die Bücher genauer anzusehen, überkommt mich wieder ein heftiges Schwindelgefühl. Ich blinzle und versuche, es aufzuhalten, doch das ist mir das letzte Mal auch nicht gelungen. Ich beginne zu schwanken und krache mit dem Kopf gegen die harte Tischplatte, bevor alles schwarz wird. Als ich diesmal die Augen aufschlage, liege ich wieder in meinem Bett und der Wecker klingelt.