Kapitel 5

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»Oh. Mein. Gott.« Ruths Mund klappt auf, als ich umgezogen wieder aus dem Bad trete und verwegen schmunzle. Han, die bis jetzt mit dem Rücken zu mir auf dem Bett gelegen ist, springt auf und reißt ebenfalls staunend die Augen auf.
»Lu! Du siehst verdammt heiß aus!«
Ich schlucke und schaue an mir herab. »Wirklich? Steht es mir echt so gut?«
»Gut beschreibt das nicht mal ansatzweise!«
Unsicher stelle ich mich vor den großen Spiegel gegenüber meines Zimmers und betrachte mich in dem Kleid. Es verläuft eng anliegend bis zur Mitte meiner Oberschenkel und hat einen wahnsinnig eleganten Rückenausschnitt, der es mir nicht ermöglicht, einen BH anzuziehen. Nicht, dass es ein Problem wäre, das Kleid ist so eng, dass ohnehin nichts mehr zwischen mir und dem Stoff Platz hat. Jetzt bin ich froh, eine relativ ansehnliche Figur zu haben, denn hier bleibt nichts versteckt. Nichts gegen Han, die in dem bauchfreien Top unwahrscheinlich sexy aussieht.
»Ja ... es sieht ganz okay aus«, muss ich zugeben. »Aber ist es nicht zu schick für die Disco? Ich meine ...«
»Nein, Lu! Fang jetzt bloß nicht so an! Du siehst hammermäßig aus.« Schnell dreht sie sich um und gräbt wieder in meinem Schrank. »Jetzt brauchen wir nur noch die richtigen Schuhe!«
Ich verkneife mir ein Grinsen.
»Wo sind deine ganzen ...«, beginnt sie, als sie wieder auftaucht, doch diese Frage kann sie sich schenken. »Oh! Genau ... du hast ja keine Highheels.«
»Richtig.«
»Du hast keine Highheels? Was ist los mit dir?«, fragt Ruth perplex und schüttelt den Kopf.
»Hallo? Sehe ich aus wie jemand, der gerne Highheels trägt?«
»Naja ... also ... wenn man nicht miteinbezieht, dass du ...« Ruth kräuselt die Lippe und denkt angestrengt nach, was bei meinen Charakterzügen für Highheels sprechen würde. »Oh Mann! Einfach jeder mag Highheels!«
Lachend schüttle ich den Kopf und stelle mich zwischen die beiden, um ihnen jeweils einen Arm um die Schulter zu legen. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, was ihr hier für mich tut, aber ich ziehe bestimmt keine Highheels an, klar?«
»Du kannst einfach nicht aus deiner Haut, was?«, fragt Han und sieht mich genervt an. Ich zucke leicht schmunzelnd mit den Schultern. »Nö.«
»Gut. Dann gestalten wir das Outfit einfach ein bisschen sportlicher mit flachen Schuhen und deiner Lederjacke, die du so gut wie immer trägst.«
»Gute Idee!«, stimme ich Han zu und grinse vor mich. Ein kleiner Sieg für Lucy. Yeay.
»Die einzige Idee!«, murrt Ruth.

»Leute! Wenn wir noch gehen wollen, müssen wir schön langsam wirklich los!«, ruft Ruth, der hinter der Badezimmertür nervös auf und ab geht. Hannah hat mir noch schnell ein wunderschönes Make-up verpasst, das grandios mit dem Kleid harmoniert, aber trotzdem nicht zu dunkel oder extravagant wirkt. Sie ist wirklich eine Künstlerin! Meine Haare hat sie mit dem Lockenstab zu großen, anmutigen Locken gedreht, die locker über meine Schultern fallen.
»Wir kommen ja schon, halt die Füße still!«, ruft Han und betrachtet ihr Kunstwerk mit einem zufriedenen Lächeln. »Du bist fertig.«
»Han, du bist ... ich meine, das ist ...«
»Das bist du. Ich habe bloß ein wenig Farbe drauf gekleckst.« Dankbar falle ich ihr um den Hals und drücke sie fest.
»Dankeschön.«
»Wie lange muss ich die Füße noch stillhalten?«, klingt Ruths nervöse Stimme zu uns durch, die uns zum Lachen bringt.
»Wir kommen ja schon.« Hannah stößt die Tür auf und führt mich stolz nach draußen, wo Ruth schon wieder der Mund offen steht. Scheint, als hätte es ihm das erste Mal die Sprache verschlagen. Sowas schafft auch nur Hannah, ehrlich.
»Wow«, bringt er hervor und lässt das Bild noch eine Weile auf sich wirken. »Okay, gehen wir, bevor die ganzen süßen Jungs weg sind«, drängt er und schiebt uns zur Treppe.
»Ruth, es ist gerade mal zehn Uhr. Jetzt kommen die ganzen süßen Typen erst!«
»Ja, da ist was dran, aber ich will jetzt trotzdem los!«
Eilig schnappen wir unsere Sachen und ziehen die Schuhe an, damit Ruth nicht noch nervtötender wird.
»Tschüss Dad, wir gehen jetzt«, rufe ich.
»Viel Spaß, ihr drei! Und schön aufpassen!«, klingt seine Stimme aus dem Arbeitszimmer, das hinter einer Tür im Wohnzimmer ist.
»Aber immer, Mister Hale!«, sagt Hannah noch, dann machen wir die Tür zu. Sofort kriecht mir eine Gänsehaut auf die Hände, als wir in die Dunkelheit vor unserem Haus eintauchen. Die Laterne, die nur mehr spärlich Licht abgibt, lässt mich auch nicht besser fühlen. Sofort blitzen die Bilder von dem Kampf auf der Straße wieder in meinem Gedächtnis auf. Ich schlucke und schlinge die Arme enger um mich, während ich mich umsehe.
»Er ist tot«, rufe ich mir ins Gedächtnis. Dieser merkwürdige Typ hat ihn abgestochen. Und dann ist er zu Staub zerfallen. Dummerweise nimmt mir diese Gewissheit keineswegs die Nervosität, sondern macht sie eher noch schlimmer. Ich habe wortwörtlich einen Menschen zu Staub zerfallen sehen. Obwohl ich mir nicht einmal sicher bin, ob dieses Ding ein Mensch war. Diese Tatsache macht mir schwer zu schaffen. Aber vielleicht hat sich mein verletzter Kopf das alles nur eingebildet, das würde mehr Sinn ergeben.
Eilig laufe ich Hannah und Ruth hinterher, die schon die Straße überquert haben und schließe zu ihnen auf.
»Wow! Heute ist die Stimmung hier drinnen ja der Hammer!«, ruft Han, als wir durch die Tür der Disco treten. Als wir an der Garderobe vorbei sind – die uns fünf Euro abgeknöpft haben, damit wir unsere Jacken aufhängen dürfen – wird die Musik immer lauter und lauter. Ich verziehe schmerzhaft das Gesicht und unterdrücke den Wunsch, mir die Ohren zuzuhalten. Da sind wir also. Im »Dark Nights«. An jeder Ecke wird geraucht, die Freundin vernascht, getanzt oder sich mit Shots die Birne weggesoffen.
»Manchmal denke ich wirklich, ich wurde im falschen Jahrhundert geboren. Ich meine ... seht euch mal den Typen da vorne an! Der tanzt wie ein wildgewordener Schimpanse, während ihm die Hose schon beinahe in den Kniekehlen sitzt! Nicht zu glauben, dass man sowas zum Vergnügen tut.«
»Lu, komm mal von deinem hohen Ross und hab ein wenig Spaß«, sagt Ruth und zieht mich weiter nach drinnen, während er zur Musik wippt.
»Also gut ... da wären wir ... und was machen wir jetzt?«
»Na wir tanzen!«, schreit Han mir ins Ohr, um die laute Musik zu übertönen und verschwindet schon in der Menschenmasse, die sich auf der Tanzfläche gebildet hat. Zu meinem Bedauern wird sie sofort von dem Schimpansen-Kerl schräg angegrinst, wobei seine Zahnspange wie eine Discokugel glänzt. Nicht im Traum denke ich daran, mich ebenfalls in sein Blickfeld zu begeben! Ruth gesellt sich zu ihr und schirmt sie von dem merkwürdigen Typen ab, der daraufhin eine andere anmacht. Was habe ich denn erwartet? Dass die beiden die ganze Zeit neben mir stehen und mit mir plaudern? Wohl kaum. Jetzt sind sie auf der Tanzfläche und tanzen mit Kerlen, die Han alle auf den Hintern starren, während ich nur blöd in der Gegend herumstehe und ihnen zusehe. Jetzt erst fällt mir auf, wie groß die Disco eigentlich ist. Auf der anderen Seite der Tanzfläche ist noch eine zweite Bar, die ich in dem ganzen Trubel gar nicht gesehen habe. Der Boden ist voll mit Konfetti, Glitzer, Zigaretten und hin und wieder auch Flüssigkeiten von einem verschütteten Getränk. Die Wände sind durchgehend besprüht und angeschrieben. Überall wird getanzt, gelacht, getrunken, geraucht, geknutscht ... und mehr will ich gar nicht wissen.
»Lu? Alls klar?«, brüllt Hannah, die plötzlich wieder neben mir steht.
»Hm? Oh ...äh ...ja! Ja mir geht's gut. Wieso tanzt du nicht mehr?«
»Machst du Witze? Ich werde dich doch nicht den ganzen Abend hier alleine rumstehen lassen!«
Gott sei Dank!
»Ich wäre gar nicht rumgestanden. Ich wollte gerade zu euch auf die Tanzfläche kommen«, lüge ich. Das ist so ziemlich das Letzte, was ich tun wollte.
»Nein, wolltest du nicht, Lu«, sagt sie und sieht mich vielsagend an. Tja, sie kennt mich eben schon zu gut. »Na los. Komm mit!«
»Ja gleich, ich will mir nur schnell einen Drink an der Bar holen. Ich komme nach.«
Sie schaut mich zweifelnd an, denn sie weiß ganz genau, dass ich nie nachkomme, aber nach ein paar Sekunden verschwindet sie trotzdem wieder in der Menschenmasse und tanzt Ruth von der Seite an. Er schnappt ihre Hand und dreht sie schnell im Kreis, was Han vergnügt lachen lässt. Ich schmunzle und drehe mich um, als mich plötzlich jemand so hart bei der Schulter trifft, dass ich meinen Halt verliere und umfalle.
»Hey!«, schnauze ich und versuche, denjenigen böse anzufunkeln, der mich angerempelt hat, doch er ist schon längst weg. Na super! Angeekelt hebe ich meine Hände, die jetzt voll sind mit verschütteten Getränken, Konfetti, Dreck und zu allem Überfluss auch noch Asche von Zigaretten. Genau deswegen gehe ich nicht gerne in Discos. Es sind lauter Arschlöcher unterwegs, die einen umrempeln und ehe man sich versieht, sitzt man am stinkenden Boden und hat sich das Outfit ruiniert.
»Kann ich dir helfen?« Ein gutaussehender, junger Typ steht vor mir und streckt mir seine Hand entgegen. Seine braunen kurzen Locken hängen ihm an einigen Stellen ins Gesicht und umspielen dabei seine wunderschönen grünen Augen. Ich erwische mich dabei, wie ich ihn anstarre und zwinge mich, wegzusehen.
»Komm, ich helfe dir hoch«, sagt er noch einmal. Ich nehme das Angebot lächelnd an und lege meine klebrige Hand in seine. Sein Lächeln ist wirklich wunderschön und in seinen Augen könnte man fast versinken. Noch dazu ist er muskulös und gut gebaut, er ist wirklich ... WARTE! WAS?? Ich schüttle schnell den Kopf, um mich aus meiner Starre zu reißen. Diese laute Musik macht einen ja ganz wuschig! So was Besonderes ist er nun auch wieder nicht. Ich bemerke, dass ich immer noch vor ihm stehe und stumm seine Hand halte.
»Oh ...« Schnell lasse ich los und trete einen Schritt zurück.
»Warst du es, der mich umgeworfen hat?«, frage ich, als ich meine Stimme wiedergefunden habe.
»Nein, das war mein Bruder. Ich muss mich für ihn entschuldigen. Er ist nicht gerade einer von der netten Sorte.«
»Schon gut.«
»Wie heißt du?«, fragt er und strahlt mich an.
»Lucy. Und du?« Auf einmal setzt er ein hämisches Grinsen auf, das mich stutzig macht.
»Du darfst dreimal raten!«
Na toll, so einer ist er also. Einer, der gerne Spielchen spielt. Irgendeine Taktik zum Flirten braucht jeder ... allerdings würden mir auf der Stelle drei bessere einfallen.
»Ähm ... nein, weißt du ... eigentlich wollte ich mir nur die Hände waschen ...«, stammle ich und bin im Begriff mich an ihm vorbeizuschieben, als er mich aufhält.
»Ach komm schon, rate!«
»Das ist doch völliger Blödsinn! Wie sollte ich mit nur drei Versuchen deinen Namen erraten?«, brülle ich über die Musik hinweg und hoffe, dass er mich einfach gehen lässt. Oder zumindest meinen Arm loslässt, damit ich ein wenig Abstand zwischen uns bringen kann. Diese unmittelbare Nähe bringt meine Gefühle ganz durcheinander. Meine Güte! Ich mutiere zu einem dieser kreischenden Teenager-Mädchen, die sich Hals über Kopf verlieben und dann sowas denken, wie: »Oh mein Gott! Er berührt meinen Arm! Na los küss mich!« NEIN! Nicht mit mir! Niemals!
»Danke für die Hilfe, aber ich werde jetzt gehen.« Glücklicherweise hält er mich nicht noch einmal auf. Mit den Armen dicht an meinen Oberkörper gedrückt, schlängle ich mich durch die Menschentraube zu den Toiletten, die – wer hätts gedacht – auch völlig überfüllt sind.
»Hast du bemerkt, wie er mich angesehen hat? So ... leidenschaftlich«, trötet ein Mädchen mit einem bauchfreien, pinken Glitzertop und einem so kurzen Rock, dass ich überrascht bin, keine Unterwäsche sehen zu können.
»Ich schwör dir, er steht total auf dich, Britney!«, redet ihre Freundin auf sie ein, die sich noch mehr Puder in ihr vollgekleistertes Gesicht tupft.
»Ja. Ich weiß.« Britney macht vor dem Spiegel einen Kussmund und klimpert mit den viel zu langen Fake-Wimpern. Es wundert mich nicht, dass irgend so ein notgeiler Typ sie »leidenschaftlich« ansieht, wenn sich die gute Britney ihm fast völlig nackt präsentiert. Oh Mann. Die beiden tun mir aufrichtig leid, wenn sie denken, es nötig zu haben, sich so aufzudonnern. Das alles, nur um einem Kerl schöne Augen zu machen, der nach der ersten Nacht wahrscheinlich ohnehin nichts mehr von einem wissen will und zu allem Überfluss noch überall rumerzählen, was für eine Schlampe man ist. Als ich endlich zum Waschbecken kann, gehen Britney und ihre Freundin an mir vorbei und hinterlassen eine intensive Duftwolke aus süßem Parfum zurück. Erleichtert wasche ich mir den Dreck und das klebrige Zeug von meinen Händen.
»Da bist du ja!« Hannah stellt sich neben mich und atmet schwer. Auf ihre Stirn hat sich ein dünner Schweißfilm gelegt, aber trotzdem sieht sie noch unwiderstehlich aus.
»Hier bin ich ... Irgend so ein Trottel hat mich umgerannt, da bin ich ganz dreckig geworden!«
»Oh! Ja, an deinem Hintern klebt auch was.«
Ich stöhne und drehe das Wasser ab, während Han versucht den Dreck von meinem Kleid zu bekommen.
»Ich habe gesehen, wie du mit dem süßen Typen an der Bar gesprochen hast!«, sagt sie feierlich und grinst mich stolz an.
»Er ist nicht süß ...«, lüge ich und wende den Blick ab. »Und außerdem haben wir nicht wirklich gesprochen.«
»Wieso nicht?«
»Er ... wollte, dass ich seinen Namen errate!«, sage ich und lache los. »Ich meine ... wer kommt schon auf so eine Idee? Namen raten!«
»Wieso hast du nicht geraten?«, will Hannah wissen, die meine negative Einstellung zu Discos und merkwürdigen Typen nicht versteht.
»Na, weil ... weil ... keine Ahnung, warum sollte ich?«
»Lu, du musst mal aus dir rausgehen.«
Ich beiße grübelnd auf meiner Lippe herum und sehe meine Freundin über den Spiegel nachdenklich an. Könnte sie recht haben? Bin ich einfach zu verklemmt?
»Ich geh dann mal für kleine Mädchen«, sie zwinkert mir zu und steuert auf eine leer gewordene Kabine zu, »und du gehst da raus und versuchst ein bisschen Spaß zu haben!«
»Ich versuchs«, murmle ich und schaue mich noch einen Moment im Spiegel an, bevor ich wieder rausgehe.
»Hast du es dir anders überlegt?«, fragt der Typ ohne Name, der immer noch an der Bar steht und grinst mich erfreut an.
»Ja und nein.«
»Ich bin ganz Ohr!« Er dreht sich zu mir und sieht mich mit seinem entwaffnenten Lächeln an. Ich lehne mich an die Theke der Bar und räuspere mich.
»Ja, ich habe es mir überlegt, aber ich werde nicht nach deinem Namen raten!«, sage ich bestimmt und verschränke stur die Arme vor der Brust.
»Du bist nur zu feige, um es zu versuchen!«, neckt er mich, aber anscheinend hat er genau das bezweckt, was er damit wollte, denn plötzlich fühle ich mich so, als könnte ich Bäume ausreißen. Ich bin nicht feige! Ich kann Spaß haben und auch mal aus meiner Haut raus! Dem werde ich es zeigen! Und Hannah gleich mit!
»Na gut!«
»Okay... also wenn du gewinnst, lade ich dich auf ein Getränk ein, alles klar?«
»Und wenn nicht?« Sofort nachdem ich das ausgesprochen habe, wünschte ich, ich könnte es wieder zurücknehmen. Ziemlich sicher kommt jetzt sowas wie: »Dann musst du mich küssen« - was ich bestimmt nicht tun werde!
»Dann bezahlst du«, sagt er zu meiner Verwunderung.
 »Okay«, sage ich kampfbegierig.
»Ha! So schnell kam ich noch nie zu einem Gratisgetränk!«
»Das wollen wir erst mal sehen!« Ich muss nicht lange überlegen, da fällt mir schon der erste Name ein. »Paul?« Nachdem ich den Namen ausgesprochen habe, rümpft er augenblicklich die Nase.
»Du denkst wirklich, ich sehe aus wie ein Paul?«
»Naja, ich könnte es mir vorstellen. Langweilig, stur, anspruchslos, begriffsstutzig, ...«
Er beginnt zu lachen und legt seinen Kopf in den Nacken. Es ist ein schönes Lachen ... Ein Lachen, von dem die meisten Mädchen weiche Knie bekommen. Nicht ich natürlich! Mädchen wie Britney, die glauben, alle Jungs würden sie leidenschaftlich ansehen.
»So komme ich rüber? Langweilig und anspruchslos?«
»Vielleicht ...«, necke ich ihn und grinse hämisch.
»Schon gut! Sag den nächsten Namen.«
Diesmal muss ich ein bisschen überlegen, immerhin hängt ein Getränk davon ab. »Vielleicht heißt du ja... Marcel?«
»Also, wenn ich ein Marcel wäre, dann wäre ich ja angriffslustig, arrogant, gierig und egoistisch.«
»Kennst du denn einen Marcel?«, frage ich neugierig und, um etwas Zeit zu schinden.
»Ja ... leider ... der hat mich in der Grundschule immer verprügelt.«
Ich verziehe mitleidig das Gesicht.
»Kennst du einen Paul?«, ruft er mir ins Ohr, wobei sich unsere Wangen leicht streifen.
»Leider ...«, bringe ich mit klopfendem Herzen hervor. Anscheinend wartet er auf eine Geschichte, denn er blickt mich mit seinen leuchtenden grünen Augen abwartend an, was mich ganz aus der Fassung bringt. Britney hat mich auf dem Klo wohl angesteckt mit ihrem Gequatsche über »leidenschaftliche« Blicke. Und das, obwohl so gut wie alles an mir bekleidet ist und man mein echtes Gesicht sieht und kein Make-up-Puppengesicht.
»Okay. Los, sag den letzten Namen. Ich bin durstig!« Er reibt sich grinsend die Hände. Ich wende den Blick ab, damit ich wieder klar denken kann und zwinge mein Gehirn dazu, seinen Job zu erledigen und nachzudenken.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du ...« Weiter komme ich nicht mehr, denn plötzlich rennt Hannah fast in mich rein und fängt an, aufgeregt zu plappern.
»Lu, du musst unbedingt kommen, ich habe da wen kennengelernt und ... Oh, tut mir leid ... Wer bist du noch gleich?« Hannah klimpert mit den Wimpern und setzt ein Oscar reifes Pokerface auf.
»Ich bin Matt.« Er hält inne und schaut mich mit großen Augen geschockt an. Ich grinse bis über beide Ohren und muss mich zusammenreißen, um mit Han nicht abzuklatschen, denn diese Vorstellung war verdammt gut.
Hannah allerdings ist es völlig egal, sie springt lachend auf und ab und fragt mich schreiend: »Na, war ich gut oder war ich gut?«
»Du warst fantastisch! Perfektes Timing, wirklich!«
»Hey! Das war gemogelt!«, protestiert Matt und verkneift sich ein Lachen.
»In der Liebe und im Spiel ist alles erlaubt!«, platzt es aus mir heraus, was ich am liebsten wieder zurückgenommen hätte. Oh Gott! Wie komme ich denn ausgerechnet auf diesen Spruch?
»Ich geh dann mal wieder, ja?«, sagt Han und drückt mir einen Kuss auf die Wange.
»Klar, ich habe ja noch ein Getränk, das auf mich wartet«, sage ich und grinse Matt schadenfroh an. Hannah versteht den Wink sofort und dreht uns beiden den Rücken zu. Im Weggehen streckt sie noch beide Daumen nach oben und grinst mich stolz an. Ich verdrehe die Augen und wende mich ein wenig verlegen wieder an Matt.
»Wirklich gut«, raunt er schmunzelnd und schüttelt den Kopf. »Wann habt ihr das ausgehackt?«
»Ähm ... auf dem Mädchenklo. Aber ausgehackt war das weniger, es war eher improvisiert«, gebe ich zu und grinse. »Also ... ich habe noch einen Namen frei, oder?«
»Allerdings.« Matt grinst mich erwartungsvoll an.
»Schon gut, ich wäre sowieso nie darauf gekommen«, gebe ich nach und stelle meine Tasche auf die Theke.
»Nein, wärst du nicht. Aber weißt du was? Ich finde, dafür, dass du dir so viel Mühe gegeben hast, verdienst du dieses Getränk wirklich.« Er ruft den Kellner und bestellt zwei Cola für uns, was mich sehr verwundert. Dann hatte ich ihn wohl falsch eingeschätzt. Womöglich ist er doch keiner von der Sorte, die mich abfüllen und dann versuchen, mich rumzukriegen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt Matt, als er meinen verwunderten Blick sieht.
Ich schlucke und setze schnell wieder mein Lächeln auf. »Ja, ja natürlich. Ich habe mich nur gefragt, wieso du nicht, wie alle anderen in unserem Alter vom Alkoholrausch besessen bist. Ich meine, für mich passt es perfekt. Ich halte nicht besonders viel davon, aber anscheinend habe ich dich doch ganz falsch eingeschätzt«, gebe ich zu.
»Einen Matt kann niemand so leicht durchschauen. Nicht einmal so ein Profi wie du.«
»Sieht ganz so aus.«
Plötzlich fällt mein Blick auf einen Kerl mit dunklen kurzen Haaren, welcher einen Blick hat wie ein angriffslustiger Puma. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als mich seine Augen kurz streifen und ich ihn erkenne. Das ist der Typ, der mich von dem ausdruckslosen Serienkiller gerettet hat. Der, der behauptete, er gehe auf meine Schule. Sofort rasseln die schrecklichen Erinnerungen an den gestrigen Abend auf mich ein, die mein Herz schneller schlagen lassen. Die Hitze und die laute Musik, die in meinen Ohren dröhnt, machen meine Unruhe nur noch größer. Auf einmal setzt ein weißes Blitzlicht ein, wie das, das in meinem Traum gewesen ist und lässt mich überall in das ausdruckslose Gesicht des Mannes sehen. Mein Puls rast, meine Hände zittern und die Umgebung verschwimmt leicht vor meinen Augen.
»Entschuldige mich, bitte«, murmle ich ohne Matt anzusehen und dränge mich durch die Menschenmasse wieder nach draußen. Ich brauche frische Luft.
»Warte, wo willst du hin?«, ruft Matt mir hinterher.
»Ich komme gleich wieder!« Stolpernd stoße ich die Tür auf und atme gierig die kühle Nachtluft ein. Zum Glück folgt mir Matt nicht nach draußen, denn im Moment hätte ich nicht gewusst, welche Ausrede ich ihm auftischen kann. Nach ein paar Sekunden bin ich schon wieder viel ruhiger. Der Vollmond erhellt die Nacht und wirft einen silbernen Schleier auf die Autos, die vor mir stehen. Der Türsteher hat seinen Posten hier draußen verlassen und wartet nun im Inneren auf die Neuankömmlinge. Abgesehen von ein paar Teenies, die zusammenstehen und rauchen, ist niemand hier. Ohne Vorwarnung blitzt in meinen Gedanken wieder das Bild des Mannes auf, der über mir steht und den Dolch erhoben hat. Das war wirklich verdammt knapp! Und ich kann niemandem sagen, dass ich beinahe getötet worden wäre, weil es mir keiner glauben würde. Man würde mich für verrückt erklären, wenn ich rumerzähle, dass mich ein Mann angriff, der sich von einem Fleck auf einen anderen teleportieren konnte und dann zu Staub zerfallen ist.
»Hey.« Hektisch drehe ich mich um und sehe den Kerl, der mich gerettet hat, vor mir stehen.
»Hey«, flüstere ich, unfähig den Blick von ihm abzuwenden. Ich schlucke und bin einen Moment von seinem guten Aussehen völlig durch den Wind. Kurz vergesse ich sogar, wie wir uns kennengelernt haben.
»Wie heißt du?«
»Warum willst du das wissen?« Er kommt einen Schritt näher und setzt, ohne mich aus den Augen zu lassen, die Bierflasche an seine Lippen.
»Weil ... naja ... du kennst meinen Namen, warum darf ich deinen nicht wissen?«
»Ich kenne deinen Namen, weil ich mich nach dir umgehört habe.«
Ein schiefes Lächeln huscht über sein Gesicht, als er meinen perplexen Gesichtsausdruck sieht. Ein kalter Windstoß jagt mir eine Gänsehaut auf die Arme. Ohne meine Lederjacke, die in der Garderobe hängt und mit dem kurzen Minikleid ist es doch ganz schön frisch hier draußen.
»Normalerweise sagen Stalker nicht gerade heraus, dass sie sich nach jemandem umhören!«, sage ich herausfordernd und schlinge die Arme um meinen Körper.
»Wer sagt, dass ich ein Stalker bin?«
»Warum hörst du dich nach mir um? Wir sind uns noch nie begegnet.«
»Ich habe da so meine Gründe«, sagt er mich tiefer Stimme, die mir einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen lässt.
»Gründe, die du mir nicht verraten wirst, vermute ich mal?«
Er schmunzelt nur und trinkt noch einen Schluck Bier.
»Danke«, murmle ich und schaue ihm aufrichtig in die Augen. »Dafür, dass du mich gerettet hast vor ... was auch immer.«
Er kneift die Augen zusammen und betrachtet mich von oben bis unten, als versuche er, mich zu durchschauen. »Kein Problem. Ich bin Alex«, sagt er schließlich und streckt mir die Hand entgegen. Ohne zu zögern, nehme ich sie in meine. Alex sieht mir intensiv in die Augen und schmunzelt leicht. Unwillkürlich schießt mein Puls in die Höhe.
»Was genau war das? Also dieser Mann ...«
»Ich sagte doch, du sollst es einfach vergessen«, brummt er, entreißt mir seine Hand und will sich umdrehen, aber ich halte ihn am Arm fest.
»Und ich habe dir gesagt, dass ich das unmöglich vergessen kann!«
Sein gefährlicher Raubkatzenblick streift mich. »Hast du es jemandem erzählt?«
»Wie hätte ich? Denkst du, irgendjemand glaubt mir, was ich gesehen habe?«
Alex wirkt beruhigt. Sein Blick wird weicher, als er mich so aufgelöst sieht. »Wie schon gesagt, es ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe nichts vor.«
»Wir sehen uns, Lucy.« Alex öffnet die Tür und geht auf zwei Mädchen zu, die sich ihm sofort an den Hals werfen. Wut keimt in mir auf. Warum lasse ich zu, dass er mich so abwimmelt? Ich habe verdammt noch mal ein Recht darauf, zu erfahren, wer oder was mich da angegriffen hat! Wenn ich das noch länger für mich behalten und so tun muss, als wäre das nie passiert, werde ich noch irre!
»Lu, da bist du ja!« Ruth gesellt sich zu mir und strahlt mich mit seinen großen, grauen Augen freundlich an. »Warum bist du hier draußen?«
»Ich wollte mich nur ein wenig abkühlen. Es ist ganz schön heiß da drinnen.«
»Das stimmt.« Er lacht und legt den Arm um meine Schulter. »Ich habe gesehen, wie du mit einem wahnsinnig gutaussehenden Typen an der Bar geflirtet hast«, murmelt er und kneift mich in den Oberarm. Ich schenke ihm ein Lächeln und versuche, Alex aus meinen Gedanken zu streichen, damit ich wenigstens noch einen netten Abend mit meinen Freunden verbringen kann.
»Geflirtet würde ich das nicht nennen. Gefällt er dir?«
»Oh, er ist ein Sahneschnittchen, aber leider schon reserviert.«
»Reserviert?«, frage ich und ziehe die Augenbrauen hoch. Ruth sieht mich vielsagend an und wartet darauf, dass ich dahinter komme. »Was? Du meinst ... du meinst er ...«
»Der Kerl steht auf dich, Lu! Das kann jeder sehen.«
»Oh ...«
»Und du sagtest, ich wäre derjenige mit der schlechten Auffassungsgabe!«, sagt er und erinnert mich daran, dass ich im Wald zu ihm sagte, er hätte eine schlechte Auffassungsgabe, weil er meinte, Han und ich wären die normalsten Mädchen an unserer Schule.
»Wir kennen uns gerade mal zwei Minuten und habe fünf Worte miteinander gesprochen, das heißt gar nichts!«
»Bei Männern schon.« Ruth zwinkert mir zu, was mir ein Lächeln auf die Lippen zaubert. »Hey, wenn du nach Hause möchtest, begleite ich dich.«
Ich werfe ihm ein dankbares Lächeln zu. »Das weiß ich zu schätzen. Aber nein, ich werde euch den Abend nicht versauen. Na komm, gehen wir wieder rein. Jetzt wird getanzt.«
»Juhu!«, ruft Ruth und drückt mich kurz an sich.
»Aber ich warne dich! Ich bin nicht gerade die beste Tänzerin.«
»Das ist egal. Mit dem Kleid und deinem süßen Hintern interessiert sich niemand für deine Tanzkünste.«
Ich pruste los und schüttle den Kopf, während Ruth mich zurück zur Tür begleitet. Er hat ein einzigartiges Talent dafür, mich zum Lachen zu bringen, wenn mir überhaupt nicht dazu zumute ist.

Flügel und SchlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt