Kapitel 17

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Den restlichen Tag habe ich mir nichts von meinem Plan, heute Nacht zu verschwinden, anmerken lassen. Ich habe mich mit Matt zum Bogenschießen getroffen, bei dem wir so gut wie kein Wort miteinander gesprochen haben, außer es ging um meine Technik. Und nach dem Mittagessen verzog ich mich recht schnell in mein Zimmer. Meine Sachen habe ich ja heute Morgen schon gepackt, ich stopfte nur noch den Brief von Miras Großvater und ihr Foto in meinen Rucksack. Und dann wartete ich. Bis zwei Uhr morgens .
Nachdem ich mir eine Jacke übergezogen habe, schleiche ich aus dem Zimmer. Zum Glück hat Cora einen unglaublich tiefen Schlaf, sonst hätte sie mich bestimmt aus dem Zimmer schleichen gehört. Meinen Schlüssel stecke ich aus Reflex wieder in meinen Sport-BH. Schnell fahre ich meine Flügel aus und schwebe durch die Gänge bis ich zur Eingangstür komme. Bevor ich mich an die Arbeit mache, schließe ich die Augen und aktiviere konzentriert meinen Schutzschild. Hoffentlich klappt das wirklich so gut, wie Jo gesagt hat, sonst bin ich innerhalb weniger Stunden mausetot. Ich lege meine Hand an die Türschnalle und versuche, die massive Außentür aufzubekommen, aber sie ist versperrt. Ich habe keine Chance, hier rauszukommen. Wäre nicht um die ganze Schule ein Schutzzauber gelegt worden, der Eindringlinge sofort verrät, hätte ich durch den Garten flüchten können. Aber da ich nicht unbedingt die ganze Schule aufwecken will, stehe ich vor der verschlossenen Tür und ärgere mich über meinen schlecht durchdachten Plan.
»Verdammt!«, fluche ich und trete gegen die Tür.
»So geht sie bestimmt nicht auf.«
Ich erschrecke und fahre herum. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich Alex in die Augen blicke, der mich amüsiert ansieht. »Alex! Du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Tut mir leid«, sagt er, obwohl er es nicht ernst meint. Er genießt es jedes Mal, wenn er es schafft, mich zu erschrecken.
»Was tust du da?«, platzt es aus mir heraus.
»Die Frage ist eher, was du hier tust.« Alex nickt mit dem Kopf auf die Tür hinter mir, an der ich bis eben noch mit aller Kraft gerüttelt habe.
»Gar nichts. I-ich bin Schlafwandler und plötzlich hier aufgetaucht«, lüge ich. Alex gluckst und schmunzelt mich schief an. »Wow. Ich hätte dir eine bessere Ausrede zugetraut«, neckt er mich und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Ja... was solls? Ich geh dann mal wieder«, murmle ich und will mich schon an ihm vorbeischleichen, als er mich am Arm aufhält. Was soll das? Will er mich jetzt zu Mary bringen, damit sie mich für meinen Fluchtversuch bestrafen kann?
»Ich dachte, du wolltest abhauen?« Alex' tiefe Stimme geht mir durch und durch. Ich schlucke und versuche, einen klaren Kopf zu bewahren, bei seinem eindringlichen Blick.
»Nein, ich bin schlafgewandelt.«
»Ach so. Na dann habe ich den Schlüssel wohl völlig umsonst aus Marys Büro mitgehen lassen.« Alex hebt einen großen, rostigen Schlüssel in die Luft und hebt herausfordernd die Augenbrauen. »Ich dachte mir schon, dass du irgendeinen schlecht durchdachten Fluchtversuch starten würdest.«
Ich blicke ihn misstrauisch an und schaue auf den Schlüssel. »Wo ist der Haken?«
»Kein Haken.«
»Also lässt du mich einfach so aus der Tür spazieren?«
»Ja.«
Ich kneife die Augen zusammen und schaue mich um. »Es kommen gleich Mary und Jo angerannt, habe ich recht?«
»Denkst du wirklich, ich würde erst den Schlüssel klauen und dir dann eine Falle stellen? Da wäre ich ja ganz schön blöd!«
Ich verkneife mir einen dummen Kommentar und schmunzle ihn vielsagend an. Alex weiß genau, was in meinem Kopf vorgeht und schüttelt leicht lachend den Kopf.
»Außerdem...«, fährt er fort, »brauche ich keine Verstärkung, um dich daran zu hindern, aus dieser Tür zu gehen.«
»Da ist ja jemand ganz schön von sich überzeugt, was?«
»Ich weiß eben, was du drauf hast und in einem echten Kampf wärst du mir haushoch unterlegen«, sagt er und zuckt selbstverliebt mit den Schultern. Wir wissen beide, dass er recht hat, aber es so unter die Nase gerieben zu bekommen, gefällt mir trotzdem nicht. »Also, willst du den Schlüssel nun oder nicht?«
»Ich will ihn!«, sage ich und will ihn schon schnappen, als Alex die Hand wegzieht.
»Unter einer Bedingung.«
»Ich wusste es!«, raune ich und strecke ihm meinen Finger unter die Nase.
»Ich will mitkommen«, sagt er, was mich sehr überrascht. Ich blicke ihn forschend an.
»Warum?«
»Wer sollte sonst auf dich aufpassen, da draußen?«
»Ich bin die letzten 18 Jahre auch ganz gut ohne dich klargekommen!«, merke ich schnippisch an und schnappe mir den Schlüssel. Wir haben schon viel zu viel Zeit verplempert.
»Aber da warst du noch kein Engel.«
»Ich habe meinen Schutzschild hochgefahren!«, erwidere ich und stecke den rostigen Schlüssel in das Schlüsselloch. Mit ein wenig Kraftaufwand, schaffe ich es, ihn umzudrehen. Mit einem lauten Klacken geht die Tür auf. Die kühle Nachtluft strömt in die Schule, die ich gierig einsauge. Es fühlt sich merkwürdigerweise an, wie Freiheit. Als wäre ich die letzten zwei Wochen im Knast gesessen.
»Nimms mir nicht übel, aber dein Schutzschild ist nicht gerade das beste. Außerdem lebt ihr in keinem Haus, das von einem Schutzzauber umgeben ist. Ich an deiner Stelle würde vorsichtiger sein«, merkt Alex an und folgt mir nach draußen. Sofort verschluckt uns die Dunkelheit von draußen. Die Schule steht mitten im Wald, damit sich kein Mensch zufällig hierher verirrt. Das bedeutet leider auch, dass hier keinerlei Laternen stehen und noch dazu habe ich keine Ahnung, wo wir sind oder in welche Richtung ich fliegen muss, um nach Hause zu kommen.
»Meine Güte! Na schön, du darfst mitkommen!«, sage ich, was meiner Mum bestimmt nicht gefallen würde. Aber es hilft nichts. Alex hat recht. Mit ihm an meiner Seite habe ich bessere Chancen. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass er mir keine Wahl lässt. Ich fahre meine Flügel aus und steige in den Himmel auf. Auf gut Glück entscheide ich mich für eine Richtung und fliege los. Alex ist dich hinter mir.
»Wohin fliegen wir eigentlich?«
»Nach Hause.«
»Hast du sie nicht mehr alle? Egal, was du vorhast und weshalb du fort bist, deinen Vater willst du bestimmt nicht in diese Sache mithineinziehen!«, ruft Alex und hält mich am Arm zurück, damit ich ihn ansehe. »Bitte sag mir, dass es einen besseren Grund für deine Flucht gibt, als dein Heimweh!« Er sieht mich eindringlich an.
»Ja gibt es«, gebe ich zu und sinke auf den Boden. »Ich habe öfter mit meiner Mutter gesprochen, als ich zugegeben habe.«
Alex grinst triumphierend. »Ich wusste es!«, wirft er ein.
»Ja, ich weiß, dass du es wusstest. Übrigens danke, dass du mich nicht verpetzt hast.«
Alex zuckt nur mit den Schultern, als wäre das keine große Sache. Doch das ist nicht wahr. Wenn er mich verraten hätte, hätte ich es bestimmt schwerer gehabt, in den zwei Wochen. »Jedenfalls sagte meine Mum mir, dass ich unbedingt aus der Schule verschwinden muss. Aber dann habe ich zwei Wochen nichts mehr von ihr gehört. Bis gestern. Sie meinte, dass Mary und Jo irgendetwas planen und ich unbedingt fliehen soll. Sie meinte außerdem, dass ich mehr über meine Vorfahren in Erfahrung bringen muss.«
Alex kneift grübelnd die Augen zusammen. Ja, so habe ich sie auch angesehen, als sie mir das gesagt hat. »Und einmal hatte ich einen Traum. Ich war in irgendeinem Schloss im Mittelalter oder so und habe einen Brief an eine gewisse Mira gefunden«, sage ich und zeige ihm den Brief und Miras Foto, »Sie war eine Hexe und hat irgendwelche Forschungen über die Unterwelt betrieben. Ich habe ihre Bücher gesehen. Ich denke, sie wollte die Tür zur Unterwelt öffnen. Ich... ich weiß, dass sind nicht viele Informationen...«
»Das sind gar keine Informationen!«, unterbricht Alex mich und gibt mir den Brief zurück.
»Ja... aber ich vertraue meiner Mum. Aus welchem Grund auch immer«, murmle ich und starre auf meine Füße. Plötzlich komme ich mir unglaublich dumm vor. Ich stehe hier mit Alex, vor der Schule, aus der wir eben geflüchtet sind und habe keinen Plan, wie es weitergehen soll.
»Okay... wir brauchen irgendeinen Unterschlupf, damit wir in Ruhe nachdenken können. Und... hast du irgendeine Idee, wie wir deine Vorfahren suchen können?«
»Han kann sowas irre gut. Sie ist ein echtes Genie, wenn es darum geht, Dinge in Erfahrung zu bringen«, überlege ich.
»Dann wird es dich sicher freuen, dass ich auch das hier aus Marys Büro mitgebracht habe.« Alex streckt mir stolz mein Handy hin, das sie mir abgenommen haben. Sie dachten wohl, dass ich meine Freunde anrufen und ihnen alles verraten könnte, was ich vermutlich auch getan hätte.
»Mein Handy! Oh du bist der Beste!«, rufe ich erfreut und falle Alex stürmisch um den Hals. Als ich bemerke, was ich gerade tue, lasse ich ihn hastig los und mache einige Schritte zurück.
»Okay«, sage ich schnell, »ich ruf sie mal an.« Mein Finger tippt auf Hannahs Namen. Als es klingelt, lege ich mein Handy ans Ohr. Es ist Samstag, gut möglich, dass Han noch auf ist. Ich zapple nervös und bete, dass sie abnimmt, ansonsten wüsste ich nicht, was ich tun soll.
»Lucy?«
»Han! Ich habe gehofft, dass ich dich noch erreiche.«
»Oh mein Gott, Lu!«, kreischt sie ins Teefon, als sie sich sicher ist, dass ich es bin. »Wo hast du gesteckt? Was ist los? Weißt du eigentlich welche Sorgen Ruth und ich uns gemacht haben? Dein Vater rief zwar an und sagte, dass du die Grippe hast, aber irgendwie kam es mir komisch vor. Ich meine... ich durfte nicht zu dir, gemeldet hast du dich auch nicht. Wir haben uns wirklich Sorgen gemacht!« Als sie endlich eine Sekunde Luft holt, nutze ich die Gelegenheit.
»Es geht mir gut und ich werde dir alles erklären. Wir kommen zu dir. Und sag kein Wort zu deinen Eltern, okay? Es ist wichtig!«
»Ja klar, die sind heute ohnehin nicht da. Aber... warte mal... wer ist wir?«
Ich werfe Alex einen schnellen Blick zu, der mich abwartend ansieht. »Ja... das werde ich dir auch noch erklären. Hör zu Han... du wirst gleich etwas ziemlich abgefahrenes sehen, also versprich mir, dass du nicht die Cops rufst, okay?«
»Okay...«, murmelt sie unsicher.
»Bis gleich Han«, sage ich noch und lege auf. Ich stecke mein Handy in meinen Rucksack und drehe mich grinsend zu Alex um. Die Tatsache, dass ich gleich meine beste Freundin sehen kann, macht mich unheimlich glücklich.
»Du weißt, dass du sie damit in Gefahr bringen könntest oder? Jeder, der davon weiß, steckt automatisch mit drin«, merkt Alex an und sieht mich eindringlich an.
»Ich weiß... aber ich wusste nicht, wohin wir sonst sollte und wir brauchen sie. Vertrau mir.«
»Okay.« Alex nickt und seufzt. »Na komm. Ich kenne den Weg«, sagt er und fliegt mit mir in die andere Richtung, als ich vorhin. Na toll, ich wäre nie zu Hause angekommen, wäre ich alleine losgezogen.

Flügel und SchlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt