Kapitel 2

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Als das Klirren der Glocke endlich den Beginn der Mittagspause ankündigt, bin ich heilfroh. Hannah und ich schlängeln uns mit unserem Tablett durch die anderen Schüler und ergattern unseren Lieblingstisch in der Kantine. Anscheinend ist dieser Tag doch nicht komplett den Bach runtergegangen. Der Tisch steht direkt neben einem Fenster, das einen wundervollen Blick in den Garten ermöglicht. Außerdem steht er nicht völlig inmitten des Tumults, denn dort habe ich ständig das Gefühl beobachtet zu werden und bringe keinen Bissen runter. Heute ist mir allerdings ohnehin der Appetit vergangen.
»Gehts dir gut, Lu?«, fragt Hannah, die schon die Hälfte ihres Sandwichs verputzt hat, während ich meines bloß anstarre. Ich lächle gezwungen und nicke kurz, bevor ich mich zum Fenster drehe und mein Essen gänzlich links liegen lasse.
»Es ist wegen deiner Mum, habe ich recht?«
»Ich hasse es, dass sie mich trotzdem noch so runterzieht. Dabei ist sie doch schon seit neun Jahren weg. Warum kann ich sie nicht einfach vergessen? Das würde alles so viel einfacher machen«, seufze ich, ohne meiner besten Freundin in die Augen zu sehen.
»Weil sie deine Mutter ist. Das vergisst man nicht.«
Schön wärs, aber Han hat recht. So sehr ich mich auch anstrenge, seine Mutter vergisst man nie. Egal, wie man auseinandergegangen ist. Ich finde es nur unfair, dass Dad und ich nun diejenigen sind, die darunter leiden. Es tut immer nur denjenigen weh, die verlassen werden und nicht denjenigen, die verlassen. Sarah hat wahrscheinlich schon längst eine neue Familie, ist glücklich und verschwendet keinen Gedanken mehr an uns. Allerdings stellt sich mir die Frage, ob man sein eigenes Kind vergessen kann.
»Hey Lu... ich will dich ja nur ungern bei deinem Gefühlschaos stören, aber wir bekommen Besuch.« Neugierig drehe ich mich um und sehe Ruth mit seinem Tablett hinter mir stehen. Er grinst mich schüchtern an und schielt auf den leeren Platz neben mir. Schnaufend schiebe ich ihm den Stuhl ein Stück zurück und drehe mich wieder zum Fenster, während er sich setzt.
»Hi, wie gehts euch? Alles klar?«, fragt er und sieht Han und mich abwartend an.
»Ja, danke alles gut«, antwortet Hannah freundlich und schenkt ihm ein warmes Lächeln. Dann dreht er sich zu mir und betrachtet mich abwartend.
»Mhm ...«, brumme ich und forme meine Lippen zu einem knappen Lächeln. »Und was ist mit dir? Die Sache mit Stacy heute tut mir wirklich leid. Du hättest sie einfach ignorieren sollen!«
»Ja, ich weiß. Aber es war gar nicht so schlimm, so konnte ich wenigstens für gute Stimmung sorgen.« Ich durchschaue seinen kläglichen Versuch zu überspielen, dass es ihm doch ganz schön zugesetzt hat. Im Moment tut er mir wirklich leid. Stacy hackt schon ständig an ihm herum, weil sie seinen Namen für einen Frauennamen hält und jetzt auch das noch.
»Also ...«, ruft er schnell, um vom Thema abzulenken, »was habt ihr am Wochenende so getrieben?«
»Ja, Lu, was hast du am Wochenende gemacht?«, wirft Han mit verschränkten Armen ein und erinnert mich an unser »Nicht viel«-Gespräch von vorhin. Ich muss lachen und zucke unschuldig mit den Schultern. Ruth, der unserem stummen Gespräch natürlich nicht folgen kann, stimmt einfach in mein Gelächter mit ein, was ihm einen merkwürdigen Blick von mir einbringt.
»Was war so lustig?«, fragt er, als er sich wieder beruhigt hat.
»Gar nichts.«
»Okay.«
Ich verdrehe die Augen und wende mich genervt wieder dem Fenster zu, in der Hoffnung, dass Ruth sich in Schweigen hüllt und sein Mittagessen isst. Doch diese Hoffnung ist vergebens.
»Was habt ihr heute noch vor?«
»Nicht viel«, rutscht mir heraus, woraufhin Hannah mit einem Seufzen die Augen überdreht.
»Also... ähm... wir könnten ja ein Eis essen gehen«, fragt Ruth und lächelt mich mit funkelnden Augen an.
»Ich habe heute schon was vor«, wirft Han ein und grinst mich schadenfroh an. Na vielen Dank auch!
»Mir ist noch zu kalt für ein Eis, tut mir leid.«
»Okay, dann vielleicht ein Spaziergang?«, versucht er es weiter. Ehrlich gesagt würde ich mich heute am liebsten in meinem Zimmer verkriechen, tafelweise Schokolade essen, einen Film nach dem anderen schauen und warten bis dieser Schreckenstag vorbei ist. Doch vielleicht wäre es wirklich nicht so schlecht, für ein paar Stunden Gesellschaft zu haben, immerhin hat Hannah heute schon was vor.
»Warum nicht«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus und zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen. Wie schlimm kann dieser Spaziergang schon werden?
»Wirklich?«, fragt er verwundert, als hätte er sich nicht im Traum gedacht, dass ich zustimmen würde. Hätte er mich an irgendeinem anderen Tag gefragt, hätte ich abgelehnt, aber heute... heute kann es nicht mehr schlimmer werden.
»Ja, wirklich.«
»Wow! Okay! Also ich hole dich dann...«
»Wir gehen sofort nach dem Unterricht«, unterbreche ich ihn, um zu verhindern, dass mein Dad von der Sache etwas mitbekommt. Er würde mich nur mit Fragen löchern, die ich nicht beantworten will. Außerdem versuche ich ohnehin meinem Dad heute aus dem Weg zu gehen.
»Alles klar!«, trällert Ruth mit einem breiten Grinsen im Gesicht, das er bestimmt die ganze nächste Stunde nicht mehr wegbekommt. Auch Han betrachtet mich grinsend, obwohl ich deutlich das große Fragezeichen in ihrem Blick erkennen kann. 

Flügel und SchlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt