Ich stoße die schwere Holztür auf. Sofort dringt Musik an meine Ohren und der Gestank von Rauch erfüllt die Luft. Ich stehe inmitten einer rustikalen Bar. Links von mir erstreckt sich eine lange Bar, deren Theke von verschütteten Getränken nass glänzt. Einige Tische und bequeme Sitzgelegenheiten sind im restlichen Raum verteilt. Ich sehe ein paar ältere Schüler im Eck sitzen und lachen. Ich bin schon eine Woche hier, aber dass es eine Bar gibt, habe ich noch nicht mitbekommen.
Nachdem Alex so schnell abgehauen ist und das schlechte Gewissen mich deshalb aufgefressen hat, bin ich ihn suchen gegangen. Als ich ihn allerdings nirgends finden konnte, habe ich Mel einen Besuch im Krankenflügel abgestattet. Sie ist eine ziemlich gute Freundin von Alex und wusste genau, wo er ist. Sie sagte, dass der Vorfall, als er 15 war, ein riesiges Geheimnis ist, von dem er niemandem erzählt - nicht mal ihr. Ich mache einen Schritt in die Bar und schaue mich um. Der Raum ist nur spärlich beleuchtet, was ihm in gewisser Weise einen romantischen Flair verleiht. Aber das macht es auch schwer, jemanden zu finden. Ich suche angestrengt alle Tische ab, bis ich Alex endlich am anderen Ende der Theke auf einem Barhocker sitzen sehe. Er beugt sich über ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit und sieht deprimiert aus. Er hat seinen Kopf auf die Hand gestützt und starrt frustriert auf sein Glas. Schnell gehe ich zu ihm und setze mich kurzerhand neben ihn. Es dauert eine Weile bis er mich bemerkt.
»Was willst du hier?«, brummt er, ohne sich zu bewegen und spielt weiter mit seiner Serviette.
»Ich habe dich gesucht.«
»Du hast mich gefunden.« Es hört sich so an, als wäre er schon länger hier. Sein leichtes Lispeln lässt mich annehmen, dass das nicht sein erster Drink heute ist.
»Alex, ich wollte dich auf keinen Fall...«
»Lass stecken, Hale. Geh einfach wieder«, murmelt er und schüttet den letzten Rest seines Getränks hinunter.
»Hey Bill! Noch einen!«, ruft er zum Barkeeper, der zuerst ihn und dann mich zweifelnd ansieht. Jetzt bin ich mir sicher, dass Alex schon mehr als genug Drinks hatte.
»Nein, wir gehen jetzt. Danke Bill, er braucht keinen mehr!«, sage ich und greife nach Alex' Arm, den er mich sofort entreißt.
»Was soll das? Ich will noch nicht gehen!«, beschwert er sich und versucht, mich abzuschütteln.
»Du hattest genug, Alex. Komm, ich bring dich in dein Zimmer«, sage ich eindringlich und schnappe ihn trotz seiner kläglichen Versuche, mir zu entkommen. Ich ziehe ihn auf die Beine. Auf einmal scheint er einzuknicken und kracht unsanft gegen mich. Ich spanne alle Muskeln an und versuche, ihn so gut wie möglich zu stützen, aber das ist gar nicht mal so einfach. »Na komm.«
Alex legt den Arm um meine Schulter und lässt sich endlich von mir aus der Bar führen. Ich stoße umständlich die schwere Tür auf und schiebe Alex hindurch.
»Warum tust du das?«, murmelt Alex und stolpert neben mir her, auf dem Weg in sein Zimmer. Am liebsten würde ich natürlich fliegen, aber da ich keine Chance habe, Alex zu tragen und er alleine wahrscheinlich gegen alle Wände krachen würde, gehen wir lieber zu Fuß.
»Weil ich nicht will, dass du dich ins Koma trinkst! Nicht wegen mir!« Ich schiebe Alex mühsam die Wendeltreppe nach oben und mache mich auf den Weg den linken Gang entlang. Da ich vorhin schon bei ihm geklopft habe, weiß ich wie lange wir zu seinem Zimmer brauchen und es ist glücklicherweise nicht ganz so weit weg wie meines. Nach ungefähr fünf Minuten haben wir seine Tür erreicht.
»Hast du den Schlüssel?«, will ich wissen. Er nickt und fährt mit der Hand in seine Hosentasche, um den Zimmerschlüssel herauszuziehen. Nachdem er vergeblich versucht hat, das Schlüsselloch zu treffen, nehme ich ihm den Schlüssel aus der Hand und sperre die Tür auf. Alex hat ein Einzelzimmer. Im Grunde sieht es gleich aus wie das von Cora und mir, nur das zweite Bett fehlt. Mir schießt sofort ein Duft von Moschus in die Nase, der mich unweigerlich an Alex erinnert. Ich stütze ihn noch bis zu seinem Bett, dort lasse ich ihn hineinplumpsen. Alex lacht und zieht mich zu sich, wodurch ich umständlich auf ihm lande.
»Alex, lass das«, sage ich lachend und versuche, von ihm herunterzukommen.
»Ich wusste schon immer, dass du was für mich übrig hast, Hale«, murmelt er und lacht vergnügt. Endlich schaffe ich es, mich aus seinem Griff zu befreien und stehe auf. Er krabbelt im Bett weiter nach oben und lässt sich dann brummend in seine Kissen sinken.
»Da täuschst du dich, Alex. Ich bin nur hier, um dich vor einer Alkoholvergiftung zu bewahren.«
Er sieht mich von seinem Kissen eindringlich an, dann klopft er neben sich aufs Bett. »Bleibst du noch hier?«
»Ich denke, ich sollte jetzt gehen. Meine Mission war erfolgreich und jetzt lasse ich dich schlafen«, sage ich und will mich schon umdrehen, als er mir hinterherruft.
»Ich hatte eine Schwester.«
Das lässt mich abrupt stehenbleiben. Ich schaue ihn neugierig an und setze mich schließlich doch zu ihm aufs Bett. »Was?«
Alex dreht sich auf den Rücken und schaut mir aufrichtig in die Augen. Alle Albernheit von eben ist wie weggewischt. »Du wolltest doch wissen, was passiert ist, als ich 15 war.«
»Ja... aber, wenn du nicht darüber sprechen willst, musst du nicht. Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so bedrängt habe, das war nicht gerade meine Glanzstunde...«
»Oh nein, das war es tatsächlich nicht«, raunt er und schmunzelt mich schief an. Seine dunklen Augen blicken mich sanft an und prägen sich jedes kleinste Detail meines Gesichts ein. Sein intensiver Blick macht mich ein wenig unbehaglich. Ich spüre, wie die Hitze in meine Wangen schießt und unterbreche den Blickkontakt.
»Ich hatte eine Schwester. Ich war 15, Matt erst 10 und Lilli war 7«, beginnt er leise zu erzählen. »Unsere Eltern waren nicht da und wir haben draußen im Garten gespielt. An diesem Tag war wohl irgendetwas mit unserem Schutzschild, das um das Haus gelegt war, denn auf einmal stand ein Dämon direkt vor uns. In unserem Garten.«
Ich schlucke und ziehe meine Knie an.
»Er stand lange Zeit einfach da und starrte uns an. Matt ist mit Lilli ins Haus gerannt, während ich versucht habe, mit dem Dämon draußen zu kämpfen. Ich habe meinem Dad - der mir das Kämpfen beigebracht hat - alle Ehre gemacht, aber auf einmal war der Dämon verschwunden. Ich habe ihn überall gesucht, aber er war weg. Erleichtert über unseren kleinen Sieg, wollte ich nach drinnen gehen, aber irgendjemand hat die Glastür zugemacht und sperrte mich aus. Ich hörte Lilli im Haus schreien, aber ich konnte nicht zu ihnen. Der Dämon hat es irgendwie ins Haus geschafft, was unlogisch ist, da normale Dämonen über keine Türschwelle kommen. Aber er stand einfach da in unserem Wohnzimmer. Matt schlug er mit einem gut platzierten Schlag bewusstlos und dann nahm er sich Lilli vor. Ich habe alles versucht, um ins Haus zu kommen, aber alle Türen waren versperrt. Kurzerhand schnappte ich mir einen Stein und begann damit auf die Glastür einzuschlagen, aber ich war zu langsam. Ich musste zusehen, wie der Dämon meiner kleinen Schwester einen Dolch ins Herz stieß. Kurz danach schaffte ich es, die Tür zu zerbrechen und stürzte mich auf den Dämon.« Alex reibt sich die Schläfen und kneift die Augen zusammen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist schrecklich! Und er wird noch überall dafür bewundert.
»Was war an dem Dämon denn anders?«, flüstere ich, als ich meine Stimme wieder gefunden habe.
»Ich weiß es nicht. Bis heute weiß ich das nicht. Matt und ich haben jahrelang versucht, es herauszufinden, aber ohne Erfolg. Fakt ist, dass fast kein anderer Dämon dazu imstande ist.« Ich schlucke und blicke zu Alex, der wie ein Häufchen Elend neben mir liegt. Deshalb glaubt er mir die Geschichte mit meiner Mum. Das meinte Alex, als er zu Matt sagte, dass in dieser Welt nichts unmöglich ist. Weil er einen Dämon in seinem Haus gesehen und getötet hat, der eigentlich gar nicht dort sein dürfte. Ohne darüber nachzudenken, nehme ich seine Hand und lege mich neben ihm, damit ich ihn besser ansehen kann.
»Das tut mir so leid«, hauche ich. Seine Augen sind glasig geworden, was er tunlichst versucht, vor mir zu verstecken. Er verschränkt seine Finger mit meinen und drückt meine Hand.
»Du erinnerst mich an sie«, flüstert er und betrachtet mich eindringlich.
»Wirklich?«
»Ja. Sie war genauso nervtötend wie du«, scherzt er und schmunzelt. Es ist schön, zu sehen, dass er wieder lachen kann.
»Das freut mich«, sage ich und lache leicht.
Irgendwann schläft er neben mir ein. Da er immer noch meine Hand hält, rühre ich mich nicht von der Stelle, bis mir selbst die Augen zufallen.