Kapitel 8

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Am nächsten Morgen bin ich früher fertig als gewöhnlich. Niemand außer mir ist schon wach, was kein Wunder ist, da es erst fünf Uhr morgens ist. Ich konnte einfach nicht schlafen. Dieses Gefühl, dieses Kribbeln in mir; ist seit gestern noch viel stärker geworden. Ich kann es nicht wirklich beschreiben. Es ist, als wäre noch etwas in mir, das nicht zu mir gehört. Klingt schräg, ich weiß. Keine Ahnung ... Vielleicht bin ich auch nur paranoid wegen dem Stress der letzten Tage. Ich verlasse mein Zimmer und setze mich auf einen der Barhocker in der Küche. In Gedanken lasse ich das Gespräch zwischen Martha und meinem Dad zum hundertsten Mal Revue passieren. Von wem sprachen sie? Auf welche Schule wollen sie mich schicken und was zum Teufel hat das schon wieder mit meiner Mutter zu tun? Mit einem Seufzen lege ich mein Kinn auf die kalte Theke und denke sehnsüchtig an die letzte Woche zurück, als mein Leben noch kein völliges Durcheinander war. Wieso hätte nicht einfach alles so bleiben können?
Irgendwann höre ich, wie mein Dad verschlafen aus seinem Zimmer schlürft und leise bei mir anklopft.
»Lucy?« Er betritt mein Zimmer. Ich hätte zu ihm hoch rufen können, dass ich schon in der Küche bin, aber dann hätte ich Martha geweckt und das wollte ich nicht. Als Dad auf einmal wie wild meine Zimmertür zuschlägt und nach unten stürmt, zucke ich hoch. Er hechtet an mir vorbei auf direktem Weg zur Haustür. »LUCY!?«, brüllt er, was unsere Nachbarn bestimmt nicht erfreuen wird. Ich ziehe überrascht die Brauen hoch und beobachte wie er mit seinen Pantoffeln nervös im Garten auf und ab geht, bevor er wieder auf die Tür zusteuert.
»Ähm ... Dad?«
Er fährt herum und blickt mich mit verstörtem Gesichtsausdruck an. Ich werfe ihm ein leichtes Lächeln zu und winke. Dad atmet tief durch und stützt sich auf den Knien ab.
»Was machst du hier Spatz?«, fragt er ganz außer Atem.
»Was machst du hier?«
Er sieht sich ratlos um und überlegt sich wahrscheinlich eine gute Ausrede für diesen Ausbruch.
»Was meinst du?« Wow, er versucht es wirklich mit der Ich-habe-keine-Ahnung-wovon-du-sprichst-Nummer?
»Dachtest du, ich wäre weggelaufen?!«, frage ich perplex und starre meinen Vater irritiert an.
»Was? Nein! Nein, ich dachte bloß ... ähm ... Ich wollte die Post holen!« Jetzt macht er sich nur noch lächerlich! Mit seinen dreckigen Pantoffeln marschiert er an mir vorbei in die Küche, wobei er überall im Wohnzimmer Gras verteilt.
»Hast du schon gefrühstückt?« Unbeholfen macht er einen Riesenlärm mit den Töpfen und Pfannen, öffnet alle Schubladen und steckt den Kopf in den leeren Backofen. »Ich mache uns jetzt erst einmal Pancakes!« Dad schnappt sich einen Kochlöffel und steckt ihn in die Mehlpackung.
»Hast du schon gegessen?«, fragt er und zeigt mit dem mehlbedeckten Kochlöffel auf mich, wobei er alles in der Küche verstreut. Ich schüttle fassungslos den Kopf, da ich nicht imstande bin irgendetwas zu sagen. Was ist bloß los mit ihm? Gerade, als er versucht, Gries in den Teig zu mischen, gehe ich dazwischen.
»Okay, Dad! Du setzt dich erstmal hier hin und lässt mich das Frühstück machen, bevor du noch Nudeln oder sonst was in den Teig mischen kannst!« Ich schiebe ihn zum Barhocker, damit ich mich an die Arbeit machen kann. Oh mein Gott! Wie hat er es geschafft, in so kurzer Zeit so ein Chaos in der Küche anzurichten?
»Was ist los mit dir?«, frage ich und starre ihn fassungslos an.
»Gar nichts. Ich bin einfach ein bisschen müde, das ist alles ...«
Das kann er jemand anders erzählen! Mein Vater war noch nie so müde, dass er nicht einmal einen Pancake-Teig zustande bringt. Da muss er schon drei Tage durchgehend wach gewesen sein! Außerdem hat er eindeutig angenommen, ich sei abgehauen. Sein komisches Verhalten muss irgendetwas mit dem Gespräch von gestern zu tun haben. Ich lehne mich erschöpft auf die Theke und reibe mir die Augen.
»Sacrebleu! Was ist denn hier passiert?«, fragt Martha, als sie die Küche betritt. Sie ist wohl von dem Lärm, den Dad verursacht hat, wach geworden. Kein Wunder.
»Ähm ... das war meine Schuld, schätze ich ...«, meldet er sich verlegen.
»Schätzt du, ja?«
»Okay, es war meine Schuld. Ich wollte uns Frühstück machen.« Er grinst Martha so spitzbübisch an, dass ich unweigerlich kichern muss.
»Jaja, schon gut. Komm Lucy, lass mich das machen«, sagt sie und schiebt mich sanft zur Seite. Ich setze mich zu meinem Dad und versuche ihn möglichst nicht anzustarren.
»Gut geschlafen?«, fragt er nach einer Weile peinlichen Schweigens.
»Mhm.«
»Ja, ich auch nicht ...«
Ich lächle ihn von der Seite an. Selbst wenn ich nicht das sage, was ich meine, durchschaut er mich. Ich hatte nie Geheimnisse vor ihm, wie kann ich dann jetzt so vieles verbergen? Oder anders gesehen, wie kann er etwas vor mir verbergen?
»Ähm ... Ich muss dir was sagen«, setze ich an, und bin drauf und dran ihm zu beichten, dass ich die beiden gestern belauscht habe wie ein kleines Mädchen. Vielleicht machen wir ja dann endlich reinen Tisch.
»Ja, ich auch«, meint er und dreht sich zu mir.
»Wirklich? Was?«
Frank sieht mich ernst an und sagt lange nichts, wodurch mein Puls unkontrollierbar in die Höhe steigt.
Bitte! Spuck es schon aus!
»Du solltest dich wärmer anziehen, es ist kalt draußen.«
Das ist alles, was er mir sagen will? Soll das ein Witz sein?
»Und worüber wolltest du mit mir reden?« Die Frage trifft mich unvorbereitet.
»Ähm ... Ich wollte ... dir sagen, dass ... ähm ... gar nichts. Ich wollte dir gar nichts sagen. Ich werde mir schnell was anderes anziehen.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, renne ich nach oben. 

Flügel und SchlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt