Kapitel 4

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Leuchtende grüne Augen inmitten eines ausdruckslosen Gesichts starren mich an. Ich liege am Boden und kann mich nicht bewegen. Mit angsterfülltem Blick muss ich hilflos mitansehen, wie der Mann mit dem erhobenen Dolch immer näher auf mich zukommt. Ich will weglaufen, doch ich kann nicht. So sehr ich mich auch anstrenge, so sehr ich mit meinen Beinen und Armen strample, ich komme nicht vom Fleck. Auch meine verzweifelten Hilferufe hallen ins Leere. Niemand ist da. Nur der Mann mit dem Dolch und dem ausdruckslosen Gesicht. Auf einmal ist die Gasse, in der ich liege, erfüllt von einem weißen Blitzlicht, wie man es in der Disco hin und wieder sieht. Mit einem Blitz verwandelt sich der Mann in den Joker. Die riesigen, roten Lippen, die grünen Haare, das irre Grinsen im Gesicht ... Und dann ist er wieder der ausdruckslose Schönling. In Sekundenschnelle ändert sich das Gesicht. Immer und immer wieder, bis die beiden verschmelzen. Ich schreie, doch kein Laut dringt über meine Lippen. Ich möchte wegsehen, kann meinen Blick aber nicht abwenden. Er kommt näher. Immer näher. Mit seinem hämischen Lachen und dem erhobenen schwarzen Dolch, der aussieht, als wäre er von einer dunklen Macht besessen. Er hebt ihn in die Höhe und ...

Auf einmal sitze ich aufrecht in meinem Bett und habe die Augen aufgerissen. Es ist stockdunkel im Zimmer. Ich kann meine eigene Hand vor Augen kaum erkennen. Mit einem schnellen Griff zur Seite schalte ich meine Nachttischlampe an und stelle erleichtert fest, dass ich alleine bin. Mein T-Shirt ist schweißdurchtränkt, sogar mein Kissen hat feuchte Flecken. Es ist drei Uhr morgens, aber aus Angst wieder einzuschlafen, stehe ich auf. Ich gehe in meinem Zimmer auf und ab und versuche gleichmäßig zuatmen, in der Hoffnung meinen Herzschlag beruhigen zu können. Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. Ich weiß nicht, ob ich Hunger habe, da ich gestern ohne etwas zu essen duschen und danach ins Bett gegangen bin oder ob ich gleich wieder kotzen muss. Ein Gedanke an Essen lässt meinen Magen allerdings knurren.
»Also doch Hunger.« Leise öffne ich die Tür und leuchte mit der Taschenlampe meines Handys in den Flur. Ich trete einen Schritt nach draußen und leuchte zur Treppe hin, die in die Küche nach unten führt. Leise schließe ich die Tür hinter mir und gehe vor mein Zimmer. Beinahe hätte ich losgekreischt, als ich mich im großen Spiegel im Flur selbst gesehen habe. Ich schlage mit der Hand auf meinen Mund, um keinen Laut von mir zu geben.
»Gott! Wieso muss mit Taschenlampe alles noch gruseliger aussehen?«
Nachdem ich einmal tief durchgeatmet habe, gehe ich nach unten und knipse in der Küche das Licht an. Nach einem Blick in den Kühlschrank nehme ich ein Joghurt heraus, schnappe mir einen Löffel und lümmel mich gemütlich auf die Couch im anliegenden Wohnzimmer. Gierig löffle ich das Joghurt leer und genieße das Gefühl, wieder etwas im Magen zu haben. Da ich nicht weiß, was ich ansonsten tun sollte, schalte ich den Fernseher ein, drehe ihn sehr leise, damit mein Dad nichts mitbekommt, und lasse mich berieseln. Fröstelnd schnappe ich mir eine Kuscheldecke und wickle mich damit am Sofa ein. 

»Lucy. Lucy, wach auf.« Jemand rüttelt sanft an meiner Schulter. Meine Lider flackern unter dem ungewohnt hellen Licht. Ich strecke die Arme über den Kopf und drücke meinen Rücken durch, wobei die Schmerzen vom Aufprall zurückkehren und ich abrupt innehalte. Auf einmal reiße ich die Augen auf und sitze aufrecht auf der Couch. Wann bin ich denn eingeschlafen?
»Morgen Dad«, murmle ich und überspiele mein geschocktes Gesicht, als ich mich an die gestrigen Vorfälle erinnere. »Wie lange habe ich geschlafen?«
»Ich weiß nicht. Du lagst schon hier, als ich aufgestanden bin. Es ist elf Uhr, Spatz.«
»Wirklich?«
Mein Dad beantwortet die Frage mit einem knappen Nicken und geht zurück in die Küche. Die Sonne wirft ihre wunderschönen Strahlen durch die Fenster und lässt unser Wohnzimmer in einem schönen Gelb erstrahlen.
»Hast du gut geschlafen?«, erkundigt mein Vater sich und blickt von seiner Zeitung auf.
»Ja, ganz gut.« Zumindest wenn man die erste Hälfte der Nacht nicht mitrechnet.
»Du musstest anscheinend wirklich viel Schlaf nachholen. Als ich gestern nach Hause kam, hast du auch schon geschlafen.«
Oh, er hat ja keine Ahnung! Gestern war ich so erschöpft von meinem Kampf ums Überleben, dass ich sofort weggebrochen bin. Zum Glück ist heute das Pochen meines Kopfes fast verschwunden, dafür hat sich eine grässliche Raue über meine Wunde gelegt, die von meinen Haaren größtenteils verdeckt wird. So bekommt mein Dad wenigstens keinen Wind davon.
»Haben wir heute irgendwas Bestimmtes vor?«, frage ich, um vom Thema abzulenken, und gehe zu ihm in die Küche, um mir einen Kaffee runterzulassen. Der ist jetzt dringend nötig.
»Ich habe keine Pläne. Was ist mit dir?«, fragt Dad beiläufig, ohne von seiner Zeitung aufzublicken. Ich hole schon Luft, um ihm zu sagen, dass ich mir heute einen ganz gemütlichen Tag zuhause gönne, doch dann fällt mir ein, dass ich mich mit Hannah und Ruth ja zum Feiern verabredet habe. Seufzend lasse ich mich auf den Hocker neben meinem Vater fallen und lasse den Kopf auf meine Hand sinken. Auf Party habe ich heute überhaupt keine Lust! Noch weniger darauf, in der Nacht alleine draußen herumzugehen.
»Ähm ... irgendwie hätte ich schon was vor, aber ich weiß nicht, ob ich gehen soll ...«, stammle ich und spiele mit einer Serviette, die auf der Theke liegt. Frank hebt neugierig die Augenbrauen und sieht mich unter seiner Lesebrille fragend an.
»Han und Ruth wollen mit mir in die Disco, aber ...«
Bevor ich ausreden kann, beginnt mein Vater schallend zu lachen, als hätte ich den Witz des Tages gerissen. Überrascht starre ich ihn an und sehe zu, wie er sich die Brille abnimmt und über die Augen wischt.
»Was ist so lustig?«
»Mäuschen, ich habe noch niemanden in deinem Alter getroffen, der fauler ist als du!«, prustet er und lacht noch mehr. »Als ich in deinem Alter war, bin ich ständig um die Häuser gezogen!«
»Tja, ich bin nun mal nicht wie du!«, fauche ich genervt und verdrehe die Augen.
»Nein, das bist du nicht.« Er streicht mir eine lange Locke hinters Ohr und betrachtet mich wehmütig. »Eigentlich erinnerst du mich jeden Tag mehr an deine Mutter.« Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, doch ich kann die Trauer deutlich heraushören. Normalerweise würde ich ihm eine sarkastische Antwort geben und in mein Zimmer flüchten, wenn er mich mit dieser Frau vergleicht, aber jetzt ... Heute verspüre ich keinen Hass auf Sarah Hale, sondern nur Mitleid für meinen Vater. Seit neun Jahren ist er mit keiner Frau mehr ausgegangen. Wenn ich ihn darauf angesprochen habe, tischte er mir jedes Mal neue Ausreden auf. Dass er nicht genug Zeit hätte oder niemand kennenlernen würde ... Aber ich weiß, was der wahre Grund dafür ist. Er hofft, dass Sarah zu ihm zurückkehrt. Nach all den Jahren wartet er noch auf sie. Deshalb legt er seinen Ehering auch nicht ab.
Ohne ein Wort zu sagen, falle ich meinem Dad um den Hals, was ihn für einen Moment überrascht zucken lässt. Doch schließlich schlingt er die Arme um mich und drückt mich fest an sich. Eine ganze Weile lang sitzen wir nur da und liegen uns in den Armen. Dad streicht mir sanft über den Rücken und spielt mit meinen Locken. »Ich liebe dich, Dad.«
»Ich liebe dich auch, Spatz«, flüstert er und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Dein Kaffee ist schon lange fertig«, fügt er noch hinzu und dreht sich schnell wieder zu seiner Zeitung, damit ich nicht sehe, dass seine Augen glasig geworden sind. Ich nicke und gehe in die Küche.

Flügel und SchlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt