Jo und ich meditierten einige Zeit, dann kam Mary, um mit mir meine Flugkünste zu trainieren. Hoffentlich bin ich im Fliegen besser als im Meditieren. Ich brauche heute ganz dringend ein paar gute Nachrichten.
»Hallo, Lucy«, begrüßt Mary mich, als sie in den Trainingssaal kommt und bleibt in der Tür stehen.
»Hallo.«
Sie betrachtet mich eine Zeit lang schmunzelnd. »Na komm, los gehts!«, sagt sie dann, was mich stutzen lässt.
»Wohin gehen wir?«
»Nach draußen. In einem geschlossenen Raum kann man doch keine erste Flugstunde machen. Außerdem kommt gleich eine Klasse hier rein, die Unterricht im Schwertkampf hat.« Seit heute ist die Schule wieder gefüllt. Die Schüler kamen von ihren Wochenendausflügen nach Hause. Beim Frühstück heute war der Speisesaal bis zum letzten Sessel gefüllt. Die meisten haben mir merkwürdige Blicke zugeworfen, aber nach diesem komischen Traum und der darauffolgenden Begegnung mit Matt, habe ich nicht wirklich darauf geachtet. Voller Vorfreude schnappe ich mir meine Trinkflasche und laufe zu Mary, die mich freudig angrinst. Anscheinend freut sie sich genauso sehr darauf, wie ich. Sie geht voraus in den schönen Hof, den ich bereits bewundert habe. Ich folge ihr an dem Pavillon und der Bank vorbei und auf einen weitläufigen Rasen, der so groß ist wie ein ganzes Fußballfeld. Hier werden wahrscheinlich alle Flugstunden abgehalten, schätze ich. Außer sie haben ein schulinternes Football-Team, aber das würde mich sehr überraschen.
»Also gut. Dann legen wir los. Fahr deine Flügel aus!«, ruft Mary grinsend und sieht mich erwartungsvoll an. Ich zögere und starre Mary nieder.
»Ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll«, gebe ich zu lache verschmitzt. Bis vor einigen Tagen wusste ich nicht mal, dass ich Flügel habe, und nun soll ich sie so mir nichts dir nichts »ausfahren«? Um ehrlich zu sein, zweifle ich sogar daran, dass ich überhaupt Flügel habe, immerhin spüre oder sehe ich sie nicht. Wie soll etwas da sein, das ich weder spüren noch sehen kann?
»Das erste Mal ist immer was Besonderes. Du musst Vertrauen haben, Lucy. Ruf sie und sie werden kommen.« Mary schließt vor mir kurz die Augen und von einer Sekunde auf die anderen hängen an ihrem Rücken wunderschöne, große, hellgraue Flügel. Mir fällt auf, dass auch die Farbe von ihren Flügeln leicht von Alex' abweicht. Marys Federn gehen leicht ins Gräuliche und Matts schienen matter zu sein, aber Alex' Flügel waren... der reinste Sonnenstrahl. So rein und weiß und strahlend. Genauso stellt man sich Engelsflügel vor. Ich bin gespannt, wie meine aussehen. Ich atme einmal tief durch und schließe dann auch die Augen. Ich soll Vertrauen haben und sie rufen. Dann mal los.
»Flügel!«, rufe ich in mich hinein. Sollte ich ihnen einen Namen geben? Nein, das ist doch albern. Wie soll ich nach meinen Flügeln rufen? Das kann nicht funktionieren. Nach einigen Sekunden öffne ich die Augen und schaue Mary zweifelnd an. »Mary, ich denke nicht, dass ich das hinbekomme. Keine Ahnung, wie ich meine Flügel rufen soll...«
»Lucy«, unterbricht sie mich und strahlt mich an. »Dreh dich einmal um, mein Schatz.«
Verwirrt runzle ich die Stirn und drehe mich um. »Oh mein Gott!«, rufe ich, als plötzlich zwei große, schöne Flügel an meinem Rücken baumeln. Sie haben so gut wie gar kein Gewicht. Und sie sind weiß mit goldenen Sprenkeln durchzogen. Wunderschön. Ich strecke die Finger aus und fahre durch die zarten Federn.
»Ich kann es fühlen«, flüstere ich beeindruckt und streichle weiter über meine Federn. Das ist das Tollste, das ich jemals gesehen habe.
»Bist du bereit, um zu fliegen?«, ruft Mary und hebt in dem Moment vom Boden ab. Ich grinse und stoße mich leicht ab. Wie auf Kommando entfalten sich meine Flügel und ich schieße in den Himmel.
»Wow! Ist das toll!«, kreische ich vergnügt, als ich hoch in den Himmel aufsteige. Mary fliegt neben mir und betrachtet mich schmunzelnd.
»Deine Mutter liebte das Fliegen auch so sehr wie du.«
»Es ist fabelhaft. Ich will nie wieder zu Fuß gehen!«, rufe ich und lache. Der Zugwind fährt mir angenehm durch die Haare, während ich in der Luft schwebe. Das Gefühl zu fliegen ist unbeschreiblich. So, als hätte ich nie in meinem Leben etwas anderes getan. Meine Flügel gehorchen mir sofort und fliegen mich genau dorthin, wo ich will. Ich weiß nicht, wie lange wir am Himmel schwebten, aber es war viel zu schnell wieder vorbei. Irgendwann starte ich den Sinkflug und versuche, genauso elegant wie Mary am Boden aufzukommen, doch stattdessen falle ich den letzten Meter vom Himmel und mache einen Bauchklatscher ins Gras.
»Alles in Ordnung?«, fragt Mary, die aus dem Lachen nicht mehr rauskommt. Ich kann mir denken, dass das lustig ausgesehen haben muss. Zum Glück hat das außer uns niemand gesehen, das wäre mehr als peinlich gewesen.
»Ja, alles gut«, sage ich und muss ebenfalls lachen. Mary hilft mir, aufzustehen, als Matt plötzlich vor uns auftaucht. Sofort ist meine gute Laune wieder um ein paar Stufen nach unten gerutscht. Perfektes Timing.
»Hallo Matt!«, sagt Mary fröhlich und lächelt ihn an.
»Wie lief die erste Flugstunde?«
»Sehr gut! Sie ist ein Naturtalent«, lobt Mary mich und klopft mir ein wenig Gras von der Schulter. Matt wirft mir einen flüchtigen Blick zu und dreht sich dann wieder zu Mary. Er bringt es nicht einmal übers Herz, mich länger als ein paar Sekunden anzusehen.
»Jo wollte dich sprechen. Ich sollte nachsehen, wie lange ihr noch braucht«, sagt Matt. Ich stehe nervös neben Mary und kaue auf meiner Lippe herum.
»Danke Matt«, sagt Mary und schaut lächelnd zwischen mir und ihm hin und her. »Also gut Kinder, dann lass ich euch mal alleine.« Mary räuspert sich und schummelt sich leise an uns vorbei. Ich bin kurz davor, ihr nachzurufen und sie zu bitten, nicht zu gehen, aber da ist sie schon weg. Vielleicht will Matt sich ja bei mir entschuldigen. Hoffentlich... Die ersten Minuten sehen wir uns einfach nur schweigend an und wissen nicht, was wir tun sollen.
»Gab es irgendwelche Vorfälle?«, bricht Matt schließlich unser Schweigen. Vorfälle. Er meint wohl, ob ich meine Mutter wieder gesehen habe.
»Nein«, sage ich und starre auf meine Füße. Ich bekomme keine Antwort von ihm, was meine Hoffnung auf eine Entschuldigung zunichte macht. Warum fällt es ihm so schwer, mir zu glauben?
»Was ist mit dir los?«, platzt es aus mir heraus.
Endlich sieht er mir in die Augen. »Nichts.«
»Ach komm, Matt.«
Er seufzt und senkt betrübt wieder den Kopf. »Ich kann diese Geschichte einfach nicht glauben, es tut mir leid«, erklärt er aufgewühlt und tritt gegen einen Stein, der am Boden liegt. Dieser fliegt daraufhin einen Meter weit durch die Luft und kommt hart wieder im Gras auf. Genauso muss ich gerade ausgesehen haben, als ich auf dem Boden aufgeschlagen bin.
»Aber du musst mir doch nicht gleich das Gefühl geben, dass ich verrückt bin!«
Matt schließt die Augen und atmet tief durch.
»Du stößt mich regelrecht weg!«
»Ich kann eben nicht anders, okay? Ich... das mit uns funktioniert nicht mehr. Es tut mir leid.« Mit diesen Worten dreht er sich um und verschwindet in Richtung Schule und lässt mich alleine im Garten zurück.