Kapitel LXXXII

5.5K 191 9
                                    


Schuss.
Das Geräusch durchbrach mein Trommelfell und ich spürte einen Schmerz im rechte Arm.
Immer noch geschockt sah ich an mir herunter, doch da war nichts.
Keine Wunde, kein Blut.
Ich ließ die Waffe fallen und umfasste meinen pochenden Arm.
Alles um mich herum drehte sich und meine Synapsen hatten einen Kurzschluss. Ich konnte das Szenario vor meinen Augen einfach nicht verstehen.
Der Schuss, die Waffe in meiner Hand, der pochende Schmerz in meinem Arm und das röchelnde Geräusch ließen sich einfach nicht sinnvoll verbinden.
Es fühlte sich an wie Stunden, in denen ich einfach gerade aus starrte.

Hiroto spuckte Blut und röchelte nach Luft. Erst jetzt setzten sich die Bilder in meinem Kopf logisch zusammen.
Der Schuss kam aus meiner Waffe. Der Schmerz in meinem Arm war vom Rückstoß, denn ich nicht abfangen konnte, weil der Mann hinter mir, mich so sehr erschreckt hatte.
Und Hiroto spuckte Blut, weil meine Kugel in seine Brust eingetreten war.

Entsetzt sah ich den Yakuza Boss an, wie er jede Sekunde schwächer wurde. Das Blut lief ihm aus der Brust und dem Mund.
"Kein schlechter Schuss für eine Frau." Kam es von dem Mann hinter mir, doch ich wandte meinen Blick nicht von Hiroto ab.
Der Japaner sah mir ebenfalls in die Auge und seine Lippen formten sich zu einem verstörenden Lächeln. Seine Zähne waren rot von dem ganzen Blut und ich wusste bereits jetzt, dass ich diesen Anblick niemals vergessen würde.
Wieder spuckte er Blut und versuchte nach Luft zuschnappen.
"Willst du ihn denn weiter leiden lassen?" Juan Li kam zu uns rüber und musterte den Verletzten auf dem Stuhl.
"Mit dieser Wunde wird er noch die nächsten zehn Minuten vor sich her röcheln. Also entweder du lässt ihn leiden oder ..."
Juan Li nickte einem seiner Männer zu, der sich bückte und meine Waffe aufhob.
Diese überreichte er mir und Juan Li nickte zu Hiroto.
Ich wusste sofort, worauf er abspielte. Ein Gnadenschuss von mir würde Hirotos Leiden beenden, ansonsten würde er noch weitere Minuten qualvolle Schmerzen erleiden.
Aber was war das richtige? Ich wollte nicht schuld an den Qualen dieses Mannes sein, aber tief im Inneren wollte ich, dass er für seine Taten büßt, dass er genauso leidet wie Pablo. Konnte ich genug Mitleid auftreiben um ihn mit einem weiteren Schuss zu erlösen? Oder würde ich zusehen, wie der Grund für die Trauer meines Mannes langsam und elendig seinen Tod findet?

Ich kannte die richtige Antwort nicht. Wusste nicht was die Anastasia getan hätte, die ich vor meiner Ehe war. Die Version meines Ich's, die niemals eine Waffe in die Hand genommen hätte um einen Mann zu exikutieren. Sie wäre erst gar nicht in diese Situation gekommen, aber ich? Ich stand hier und zielte auf einen bereits sterbenden Mann.

Nach eigenen Sekunden nahm ich die Waffe runter und gab sie einem von Li's Gorillan.
Ich hatte Dante die Möglichkeit auf Rache genommen, da sollte er wenigstens wissen, dass Hiroto gelitten hatte. Vielleicht würde er mir irgendwann verzeihen können, wenn er wüsste, dass Hiroto nicht schnell gestorben war.
Auch wenn er damit die Identität des Informanten mit ins Grab nehmen würde.

Der Körper des Japaners wurde immer schlafer und man konnte deutlich sehen, wie stark er für jeden Atemzug kämpfen musste.
Die Innere Stimme in mir schrie mich an, dass ich mich weg drehen soll, dass ich laufen soll, doch ich stand versteinert da und sah zu, wie Hirotos Geist Stück für Stück seinen Körper verließ.
In seinen Augen war nichts mehr von der Arroganz zu sehen, mit welcher er bis zur letzten Sekunde mit mir sprach, alles war geblieben war, Angst.

Er nahm seinen letzten Atemzug und seine Augen erstarrte.
Er war tot.
Wie als hätte mich diese Erkenntnis aus meiner Trance befreit, entfernte ich mich mit langsamen Schritten von der Leiche.

"Ihre Arbeit ist getan Seniora Martinelli, Ihre Schuld ist beglichen." Diese Worte von Juan Li nahm ich als Startschuss und drehte mich blitzartig um und rannte so schnell ich konnte aus dem Gebäude.
Außeratmen kam ich an meinem Auto an und schloss die Tür auf. Der Schlüssel zitterte in meinen Händen, aber sobald ich hinter dem Steuer saß, umfasste ich das Lenkrad mit festem Griff und hielt mir daran fest. Ich muss hier weg, war alles was meine Gedanken beherrschte.
Ich agierte maschinell, alles funktioniert in mir ohne nachzudenken.
Ich startete den Motor und raste davon.

Stundenlang fuhr ich durch die Gegend.
Irgendwann kam ich an der Promenade an und stellte den Motor aus. Ich hatte gar keine Ahnung, wie ich hier her gekommen war. Die ganze Fahrt über blickte ich verloren auf die Straße und hatte meine Umgebung nicht beachtet. Ich war einfach los gefahren und bin dem Verlauf der Straße gefolgt.
Ich stellte den Motor ab und sah mich um. Der Parkplatz war leer und auch sonst war niemand in meiner näheren Umgebung zu sehen.
Was soll ich jetzt machen? Ich hatte keinen Plan. Ich saß einfach weiter in dem Auto und suchte nach einem Ausweg, einer Lösung.
Sollte ich jemanden Anrufen? Vlad vielleicht? Aber was sollte ich ihm sagen?
Hey ich hab grade den japanischen Mafiaboss erschossen, kannst du zum Strand kommen? Meine Gedanken überschlugen sich und ich hielt meinen Kopf mit beiden Händen fest, da ich angst hatte er würde mir sonst explodieren.

Wie soll es jetzt weiter gehen? Wie soll ich jetzt weiter machen?

Minuten vergingen und ich starrte einfach weiter aus der Frontscheibe auf den Strand. Ich fühlte nichts, absolut nichts. Kein Bedauern, keine Trauer, kein Schmerz. Ich hatte einen Menschen erschossen, aber in mir war alles leer. Meine Gedanken rasten, aber meine Gefühle waren stumm, taub, als wäre ich eine Hülle und mehr nicht.

Ich öffnete die Autotür und stieg aus. Die kühle Abendluft füllte meine Lungen und schickte wieder etwas Sauerstoff an mein Gehirn.
Nach einigen Schritten überkam mich eine Übelkeit, welche mir nicht eine Sekunde Zeit gewährte, um mich auf das kommende vorzubereiten. Ich beugte mich über den Asphalt des Parkplatz und erbrach.
Nachdem ich mich wieder gefangen hatte ging ich zurück zum Wagen und holte eine Wasserflasche heraus um meinen Mund auszuspülen.
Ich ließ die Flasche am Gehweg stehen und ging in Richtung des Meeres.

Es war immer noch dunkel, auch wenn die Sonne langsam aufging und gegen die Dunkelheit der Nacht ankämpfte.
Ich hatte diesen Kampf verloren, denn ich hab mich ihr hingegeben.
Als ich den Sand unter meinen Füßen spürte wurden meine Schritte schneller. In der Mitte des Strandes hielt ich an und fiel auf meine Knie.

Ist das meine Strafe? Die Leere in mir, welche mich Sekunde für Sekunde weiter auffraß, die Taubheit, die mich rein gar nichts fühlen ließ.
Mein Atem wurde schneller und ich fing an zu hyperventilieren. Immer und immer wieder redete ich mir ein, dass ich es tun musste, dass ich es für Pablo getan hatte für Dante, für uns, aber so richtig überzeugen konnte ich mich nicht. Ich fühlte keine Schuld, weil ich einen Menschen getötet hatte. Hiroto war ein dreckiges Arschloch, selbst für einen Mafiosi, und er hatte den Tod verdient, doch nicht durch mich.

Wie soll ich jetzt weiter machen? Wie soll ich zurück nach Hause fahren und mich zu Dante ins Bett legen, mit dem Wissen, dass er niemals seine Rache bekommt. Das er vergeblich nach einem Mann suchen wird, den ich ihn bereits getötet hatte.

Ich hatte ihn getötet. Oh Gott ich habe einen Menschen getötet. Wie eine Welle brausten die Gefühle auf mich zu und überschwemmten mich. Ich fing an zu zittern, zu weinen.
Meine Atmung ging stoßweise und ich hatte angst mich in dieser Panikattake zu verlieren. Hier war niemand außer mir, niemand der mir helfen konnte. Wo war mein Anker? Wo war Dante?

"Ahhhhhhhhhhhhh..."
Ich gab einen lauten Schrei von mir. Immer und immer wieder schrie ich einfach das Meer an. Ich ließ alles raus, auch wenn es nie mehr als zwei Buchstaben waren, die meinen Mund verließen. Ich krallte meine Finger in den Sand und schrie erneut, den Blick immer noch auf den Horizont gerichtet.

Doch das Meer schwieg, es gab mir keine Antwort.

Ace of HeartsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt