14 | Anziehungskraft

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»Wir könnten heute Abend den zweiten Teil schauen«, flötete Julian in der Straßenbahn. Mit Glück hatten wir einen Zweierplatz erhaschen können, wobei Julian halb mit dem Rücken am Fenster lehnte und mich grinsend anschaute.

»Ganz sicher nicht«, antwortete ich.

Wir hatten Hangover geschaut, und Julian hatte mir enthusiastisch erzählt, dass er auch noch Teil Zwei und Drei auf seinem Handy hatte, aber mir hatte der erste schon vollkommen ausgereicht.

»Bitte?« Julian machte einen Schmollmund, aber ich verdrehte nur die Augen. Ob ich den Humor dieser Filmreihe noch weitere zwei Stunden aushalten würde, wusste ich nicht.

Nach einer Viertelstunde kamen wir in Venedig an und stiegen mit dem Menschenstrom aus der Bahn. Durch die Menge drängend suchten wir nach einem freien Ort, um uns einen Überblick zu verschaffen. Die hochstehende Mittagssonne prallte bereits auf unsere Köpfe, obwohl die Temperaturen im Vergleich zu den letzten Tagen angenehm waren.

»Wo müssen wir denn hin?«, fragte ich, während ich mich umschaute.

»Da«, sagte Julian und deutete auf einen Wegweiser. »San Marco.«

Wir wuselten uns durch die engen, vollen Gassen Venedigs bis zum Markusplatz, an dem sich alle Touristen zu tummeln schienen. Die größte Traube an Menschen hatte sich vor dem Markusdom versammelt, der uns marmorfarben entgegenstrahlte. Mit seiner Säulenfassade, seinen goldenen Verzierungen und den fünf großen Dachkuppeln wirkte der Dom wie ein Palast.

Wir machten einen Rundgang über den Markusplatz und stellten uns einige Minuten zu der Menschenmasse, die den Dom bestaunte und fotografierte, ehe wir uns in einem nahegelegenen Café niederließen. Während Julian sich einen Cappuccino bestellte, entschied ich mich für ein kühles Wasser. Gerade als ich einen Schluck aus meinem Glas nahm, schmunzelte ich, weil sich ein weißer Schaumfilm auf Julians Oberlippe bildete, als er an seinem Cappuccino nippte.

»Bock auf Strand?«, fragte Julian, nachdem er seine Tasse wieder abgestellt hatte. Noch immer musterte ich den Schaum auf seiner Oberlippe, ehe er sich über die Lippen leckte. Ich straffte meine Schultern. »Wo ist hier denn einer?«

Julian grinste schief. »Lido.«

Wir tranken noch gemütlich unsere Getränke, bevor wir bezahlten und ein weiteres Mal über den Markusplatz bis zur nächsten Bootanlegestellte schlenderten. Von dort aus fuhren wir mit einem Vaporetti nach Lido.

In Lido angekommen, mussten wir nur noch die Insel überqueren, um zum Strand zu gelangen. Lido war eine schmale, längliche Insel, daher mussten wir nicht besonders weit laufen; ebenso erstreckte sich der Strand über eine lange Fläche, sodass sich die Touristen gut verteilten und wir einen ruhigen Platz für unsere Handtücher fanden. Glücklicherweise trug ich meine Badehose bereits unter meiner Hose. Das war zwar nicht besonders bequem und eigentlich auch ein wenig zu warm, aber zumindest musste ich mich nicht in der Öffentlichkeit umziehen. Kurz betrachtete ich Julian, wie er seine Badehose aus dem Rucksack kramte, aber als er sich seine Hose runterzog, wandte ich mich eilig ab. Stattdessen griff ich nach meiner Sonnencreme.

Die Wassertemperatur war in Lido erstaunlich angenehm. Ich genoss es, mit Julian baden zu gehen; nicht zuletzt, weil ich das Gefühl hatte, es mit ihm viel mehr auskosten zu können als in vergangenen Familienurlauben, an denen ich bestimmt seit meinem Studium nicht mehr teilgenommen hatte. Mit Julian konnte ich herumalbern, hinausschwimmen, Tauchwettbewerbe machen oder mich einfach nur im Wasser treiben lassen. Meine Familienurlaube wären sicherlich um Wesentliches spannender gewesen, hätte ich Julian an meiner Seite gehabt.

Wir waren gerade dabei, weiter hinauszuschwimmen, als ich innehielt und nur noch leicht mit den Armen und Beinen paddelte, um mich über Wasser zu halten. Stirnrunzelnd musterte ich Julian. An meiner Seite, wiederholte ich gedanklich und presste die Lippen aufeinander. Julian war noch einige Meter weitergeschwommen, bevor er realisierte, dass ich nicht mehr hinterherkam. Er schwamm zurück und musterte mich skeptisch. »Denkst du etwa wieder nach?«

Zwischen den Welten - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt