1 | Kurzschlussreaktion

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Die Lichter des Plaza Mayor erstrahlten schon zur frühen Abendstunde in einem dezenten Rot. Noch immer waren die zahlreichen Cafés am Rande des Platzes gut gefühlt. Mit den Händen in den Hosentaschen und vorgezogenen Schultern lief ich über den Platz; dabei wich ich immer wieder laut erzählenden Touristengruppen aus. Eilig hielt ich mir eine Hand vor den Mund, als ich tief gähnen musste. Ich wusste nicht, was ich hier suchte und warum ich mit meinem Auto die lange Strecke nach Madrid angetreten war. Was hatte ich mir erhofft? Dass es irgendetwas änderte? Dass ich wieder der kleine Junge sein konnte, der davon träumte, im Estadio Santiago Bernabéu des großen Fußballvereins Real Madrid zu kicken? Die Realität war ernüchternd. Ich wusste nicht einmal, wann mir das letzte Mal etwas echte Freude bereitet hatte.

Ich strebte eine der vier großen Laternen an, die sich jeweils in den Ecken des Platzes befanden. Sie waren mit kreisrunden Sitzflächen umrandet, auf denen ich einen freien Platz fand. Neben mir saß eine britische Reisegruppe, die sich angeregt über die Statue in der Mitte des Platzes unterhielt. Eine kleine Menschentraube hatte sich vor der Statue gebildet, Touristen fotografierten sie mit dem orange-roten Sonnenuntergang im Hintergrund, der sich am Himmel hinter den Gebäuden abzeichnete. Die Statue war umzäunt, um Touristen davon abzuhalten, zu nah zu kommen. Sie war eingesperrt, genauso, wie man mich regelrecht in meinem Leben eingesperrt hatte.

Meine übereifrige Flucht nach Madrid hatte sich als kontraproduktiv erwiesen. Egal, wie ich es drehte und wendete, ich musste zurückkehren und dann – da war ich mir sicher – würde alles nur noch schlimmer werden. Nun hatte ich meinen leistungsorientierten Eltern einen Grund gegeben, enttäuscht von mir zu sein; sicherlich würden sie mich wie einen rebellischen Teenager behandeln, der nicht wusste, was eigentlich gut für ihn war. Ich atmete tief durch und suchte krampfhaft nach einer Ausrede, die ich meinen Eltern auftischen konnte, doch mir wollte partout keine einfallen. Keine, die rechtfertigte, dass ich von zuhause verschwunden war, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben. Eigentlich war jede Möglichkeit besser als die der Rückkehr. Aber welche Wahl hatte ich noch?

Wenn ich mir für diese Nacht eine Unterkunft suchte, würde ich morgen Vormittag fit genug sein, um die weite Strecke ein weiteres Mal hinter mich zu bringen. Dann würde ich mich bei meinen Eltern entschuldigen, ihnen sagen, dass ich nicht wusste, was in mich gefahren war und dass ich das nie wieder tun würde. Sie würden mich ansehen wie einen kleinen Jungen, mich tadeln und belehren, dass ich mein Leben nicht wegwerfen solle, und irgendwann würden sie es vermutlich vergessen.

Es kam jedoch anders, als ich aufsah und in das Gesicht eines fremden Typen blickte, der mich lächelnd mit »Hola« begrüßte. Wie anders es kommen sollte, das hatte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht einmal annähernd vorstellen können.

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Irritiert musterte ich den Fremden, der mich aus meinen Gedanken hochgeschreckt hatte. Er hatte im Gegensatz zu mir leicht zottelige, braune Haare und dunkelbraune Augen und war ähnlich wie ich nicht besonders groß, weshalb man auf den ersten Blick meinen sollte, er sei der typisch spanische Einwohner. Ich kniff die Augen zusammen, denn der Fremde setzte sich geradewegs neben mich und warf mir kurze Blicke zu, als würde er irgendetwas von mir erwarten.

»No hablo español«, stammelte ich. Als der Fremde lachte, schluckte ich. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Oder lag es an meiner grausigen Aussprache?

»Ich bin Julian«, stellte er sich vor.

»David«, antwortete ich leise. »Woher weißt du, dass ich Deutsch bin?«

»Ich hab leider keinen Spiegel dabei.« Julian grinste verschmitzt, während ich lautlos seufzte. »Außerdem hat dich dein deutscher Akzent verraten«, fügte er an.

Stirnrunzelnd musterte ich ihn. Ich überlegte gerade, wie ich mich aus der Situation rausmanövrieren konnte, als mich das schiefe Grinsen und der leuchtende Glanz in den dunklen Augen des Fremden in den Bann zogen. Schnell sah ich zur Seite und schluckte schwer. Scheinheilig beobachtete ich die britische Reisegruppe neben uns, die sich über madrilenische Sehenswürdigkeiten unterhielt. Nachdem ein älterer Herr aus der Gruppe auf ein Café am Rande des Platzes gedeutet hatte, stand die Gruppe auf und hinterließ eine leere Sitzbank. Ein Räuspern ließ mich aufschrecken.

Zwischen den Welten - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt