Epilog

26 7 12
                                    

Oktober

Ein frischer Wind blies mir um die Ohren, als ich aus meinem Auto ausstieg. Rasch schlang ich die Arme um meinen Oberkörper und hastete zur Eingangstür. Mein grauer Pullover war langsam nicht mehr ausreichend für das herbstliche Wetter. Die Büsche im Vorgarten meiner Freundin hatten bereits ihr sattes Grün verloren, auf dem Steinboden lagen gelbe und rote Blätter des einzigen, kleinen Laubbaums. Grau und matt wirkten die Pflanzen im dämmernden Abendlicht. Ich klingelte an der Tür, bevor ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche kramte, den Anna mir am Morgen gegeben hatte. Ich schloss die Tür auf und streifte mir die Schuhe von den Füßen, da kam sie mir bereits im Hausflur entgegen. Sanft erwiderte ich ihr Lächeln.

»Wie war dein erster Unitag?«, fragte sie.

Ich atmete tief durch. Sterbenslangweilig. Ich wusste nicht, wie ich zwei Jahre davon aushalten sollte.

»Gut«, antwortete ich. »Es ist ungewohnt, alle Vorlesungen auf Englisch zu haben, aber ich komme ganz gut klar.«

Ich drückte ihr den Hausschlüssel in die Hand und küsste sie auf die Lippen. Im Hintergrund hörte ich das Essen in der Küche kochen, der aromatische Geruch von frisch gekochtem Fleisch zog mir in die Nase. Als ich an Anna vorbei in die Küche schielte, kicherte sie leise. »Gulasch.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln.

»Wie war die Arbeit?«, fragte ich. Sie winkte ab.

»Unspektakulär. Wir arbeiten immer noch an der Umgestaltung der Homepage.«

»Du weißt, dass du nicht so aufwändig kochen musst nach der Arbeit, oder?«, erwiderte ich.

Sie verdrehte die Augen und ging zurück in die Küche. Stumm folgte ich ihr und setzte mich an den Küchentisch, während sie am Herd die braune Soße umrührte. Ich seufzte lautlos und zog mein Handy aus der Hosentasche.

Es war nur ein Tag Uni gewesen und doch hatte ich das Bedürfnis, mich unter einer Decke zu vergraben und mindestens eine Woche nicht mehr herauszukommen. Mein Kopf rauchte von den statistischen und ökonometrischen Theorien, die ich mir heute hatte anhören dürfen. Ich scrollte durch meine Chatverläufe und blieb bei Julians Nachricht hängen, die er mir vor eineinhalb Monaten geschrieben hatte. Es verging kaum ein Tag, an dem ich sie nicht las.

Mi. 21. Aug.
Hey David. Ich weiß, du hast gesagt ich soll nur schreiben, wenn ich meine Meinung ändere. Aber ich konnte dein Angebot nicht annehmen. Ich hab mir das Geld von Fabio geholt. Trotzdem dachte ich, dass du vielleicht meine Nummer auch haben willst... also falls du deine Meinung änderst. Tut mir leid, dass ichs verbockt hab. Ich vermisse dich.

Ich warf einen Blick auf Anna, die leise eine Melodie von einem Poplied summte, während sie Nudeln ins kochende Wasser schüttete. Ich kannte das Lied, aber kam nicht drauf. Es war eines, das aktuell ständig im Radio lief. Als meine Hand zu schmerzen begann, realisierte ich, wie fest ich mein Handy umschlungen hatte. Vorsichtig legte ich es mit dem Bildschirm nach unten auf dem Tisch ab und atmete tief durch. »Glaubst du, dass Menschen eine zweite Chance verdienen?«

Überrascht drehte sich Anna zu mir um, den Kochlöffel in ihrer Hand.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie schließlich, »kommt auf die Menschen an und was sie getan haben.«

Nervös faltete ich meine Hände in meinem Schoß. »Glaubst du, dass ich eine zweite Chance verdient habe?«

»Wofür solltest du die denn brauchen?«

Ich blinzelte, während mir der Schmerz in meiner Brust den Atem raubte. »Du weißt warum.«

Meine Stimme war rau und kratzig, als hätte ich den ganzen Tag nichts getrunken. Anna senkte den Blick und seufzte tief. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie mich wieder ansah, die Augenbrauen zusammengezogen, die Stirn in Falten gelegt. »Wir sind alle Schuld daran, David.«

Ich wollte ihr antworten, doch kein Wort verließ meine Lippen. Also schüttelte ich den Kopf.

»Wir haben ihn alle im Stich gelassen«, fuhr sie fort. »Wir waren jung und ignorant. So sind junge Menschen nun einmal.«

»Nein«, sagte ich und verschränkte meine Arme, »es ist nicht normal, jemanden in den Suizid zu treiben.«

»Du weißt doch gar nicht, warum er es getan hat.«

Ich schnalzte mit der Zunge, ehe ich mir mit der Hand über meine schmerzende Brust rieb. Das hier war nicht richtig. Ich hatte es versucht. Aber es war nicht richtig. Ich war mit Anna zusammengeblieben, um mich nicht mit der Wahrheit auseinandersetzen zu müssen. Aber die Wahrheit war, dass ich immer noch an Julian dachte. Jeden Tag. Dass ich diese verdammte Nachricht jeden Tag anschaute und dem Bedürfnis widerstand, ihm zu antworten. Alles an dieser Situation war falsch und ich wusste es. Genau wie ich es damals gewusst hatte, aber ich hatte mich für die Lüge entschieden.

»Ich bin mal kurz auf Toilette«, sagte ich und stand matt auf.

»Alles okay?«, fragte sie und ich nickte. Ich lächelte sogar, aber innerlich rasten meine Gedanken. Mit meinem Handy in der Hand verschwand ich aus der Küche und suchte das Badezimmer auf, in das ich mich einschloss. Ich setzte mich auf den Klodeckel und starrte auf den Bildschirm meines Handys. Auf die Nachricht, die ich nicht vergessen konnte.

'Hey Julian. Ich habe das Gefühl, dass ich gegen Wände laufe. Nichts, was ich tue, fühlt sich richtig an. Und alles nur, weil du mir diese Nachricht schreiben musstest. Ich –'

Bevor ich weiterschrieb, löschte ich den gesamten Text wieder und stöhnte frustriert auf. Mein Herz klopfte schnell in meiner Brust, als ich daran dachte, was Julian tat. War er bei Fabio? Hatte er sich mit ihm vertragen? Oder war er zu Hause, wo auch sein Vater war?

Dachte er noch an mich? Oder hatte er mich nach den eineinhalb Monaten bereits vergessen? Ich hatte gehofft, ihn zu vergessen, doch es wollte nicht funktionieren. Ich tippte den Bildschirm meines Handys an, der gerade dunkel wurde. Kurz schloss ich die Augen, atmete tief durch, und starrte auf den Chatverlauf. Ich tippte erneut, aber diesmal nur vier Worte.

Ich vermisse dich auch...

Und dann drückte ich auf Senden.



___

Vielen Dank fürs Mitlesen! Lasst mir gerne ein Sternchen oder einen Kommentar da. Und danach könnt ihr direkt zu Teil 2 hüpfen: https://www.wattpad.com/story/327497968-zwischen-den-welten-band-2 ♥

Zwischen den Welten - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt