22 | Alte Freunde

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Meine Träume waren wirr in dieser Nacht. Sie hatten keinen Anfang und kein Ende, sie sprangen kreuz und quer zwischen Orten und Personen aus meiner Vergangenheit und Gegenwart und dazwischen drängten sich immer wieder trübblaue Augen und pechschwarze Haare auf. Mehr konnte ich nach dem Aufwachen nicht mehr rekonstruieren und letztlich war ich froh darüber. Ich war ohnehin noch erschöpft vom gestrigen Tag.

Lennard war bereits am Vormittag nach Hause zu seinen Eltern gefahren, nachdem er mit Julian Handynummern ausgetauscht hatte. Ich war mir nicht sicher, ob er es bereute, bei uns im Zelt geschlafen zu haben, denn ohne Isomatte musste der Boden unangenehm hart gewesen sein. Auf der anderen Seite beschlich mich das Gefühl, dass diesem Mann das Grinsen regelrecht ins Gesicht gebrannt war. Seine dauerhaft gute Laune war beinahe anstrengend und doch beneidete ich ihn darum.

Julian auf der anderen Seite war ruhig an diesem Vormittag. Das fiel mir umso mehr auf, als Lennard nicht mehr hier war. Den halben Vormittag überlegte ich, ob ich Julian fragen sollte, was los war, aber nach unserem gestrigen Gespräch erschien mir das unangemessen. Denn auch mir lag es noch schwer im Magen, erst recht, wenn ich daran dachte, dass Julian mich nun anders wahrnehmen könnte. Ich war noch nie gut darin gewesen, meine Fehler zu akzeptieren. Nicht vor mir und auch nicht vor anderen.

So unternahmen wir auch heute nichts Besonderes, sondern aßen nur gemeinsam beim Kiosk und legten uns anschließend wieder mit unseren Handtüchern auf die grüne Wiese. Eine angenehme Brise wehte uns um die Ohren und die Temperaturen waren auf ein selbst für mich erträgliches Niveau gesunken. Obwohl die Sonnenstrahlen nicht immer ihren Weg durch die Wolkendecke fanden, cremte ich mich dick mit Sonnencreme ein.

So sehr ich es auch versuchte, ich konnte den Tag nicht genießen. Bei allem, was ich tat, fühlte ich mich, als würden einige Kilo mehr auf meinen Schultern lasten, die mir jegliche Motivation raubten. So lag ich nur auf meinem Bauch, mein Gesicht auf meine Unterarme gebettet, und versuchte, die vielen Gedanken in meinem Kopf abzuschalten. Doch seit meinem Gespräch mit Julian am Vorabend schlichen sich immer wieder trübblaue Augen in meinen Kopf, die ich so vehement zu vergessen versuchte.

Wie viele Dinge wohl anders gelaufen wären, hätte ich an jenem Abend nicht zu viel getrunken und mich in einem unachtsamen Moment dazu verleiten lassen, ihn zu küssen? Und die wohl dringendere Frage war doch, was würde ich heute tun? Ich wusste es nicht. Meiner Familie, meinen Freunden, Anna, davon zu erzählen, dass ich womöglich auch an Männern interessiert war, drehte mir noch immer den Magen um. Ich war noch nicht bereit, darüber nachzudenken, was nach unserer Reise passieren würde.

Ich zuckte zusammen, als etwas Kühles, Flüssiges auf meinen Rücken tropfte. Perplex riss ich die Augen auf und sah Julian, wie er eine Tube Sonnencreme über meinen Körper hielt. Als sich unsere Blicke trafen, grinste er.

»Ich habe mich schon eingecremt«, sagte ich.

»Am Rücken?«

Ich seufzte. »Da wo hinkomme zumindest.«

»Na also.« Julian massierte den Klecks an Creme auf meinem Rücken mit einer Hand ein, während er die Tube mit der anderen verschloss und zur Seite warf. »Vielleicht habe ich aber auch nur einen Vorwand gesucht, dich anzufassen.«

Ich schmunzelte und dachte daran, wie es mich noch vor ein paar Tagen gestört hätte. Nun schloss ich meine Augen und ließ ungehindert zu, wie Julians Finger sanft über meinen Rücken glitten. Mir entwich ein leises Murren, als Julian sich von mir löste und auf sein Handtuch zurückrutschte. Er lachte und strich mir kurz über den Oberarm.

»Soll ich dich auch eincremen?«, fragte ich.

»Nö.« Julian legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Für einige Momente sah ich ihn an und versuchte etwas aus seiner Mimik herauszulesen, das mir Aufschluss darüber geben würde, wie er sich fühlte. Aber vielleicht bildete ich mir nur ein, dass er heute anders drauf war als sonst. Vielleicht wollte er auch nur entspannen und war deshalb so ruhig. Ich atmete tief ein und schloss meine Augen.

Zwischen den Welten - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt