Wunde Punkte

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Alex Hetkamp
Als ich mit einer roten weichen Weste in der Hand zurück in das Zimmer komme, sind meine Kollegen damit beschäftigt, zu dem Mädchen Vertrauen aufzubauen, damit sie sich untersuchen lässt. Scheint aber nicht so ganz zu funktionieren...

„Ziehen wir ihr mal etwas warmes an" unterbreche ich die vergeblichen Versuche, das Mädchen von einer Behandlung zu überzeugen.
Natürlich ist Jola jetzt absolut eingeschüchtert und möchte sich nicht einmal mehr die Weste umlegen lassen.

Jola
Jetzt wollen sie mir eine Jacke geben, aber so dumm bin ich auch wieder nicht! Sobald ich mich aufrichte und ihnen vertraue, werden sie den Moment ausnutzen, auf meinen Bauch zu sehen. Daran habe ich nichts zu bezweifeln.

Der eine Sanitäter ruft anscheinend nach Verstärkung: „Birgit!" nennt er den Namen. Als ob das ihnen helfen würde! Sie sollten sich um echte Notfälle kümmern!

Birgit Maas
Gerade als das Essen fertig gekocht ist, ruft eine Stimme aus dem Nebenzimmer, die ich Alex zuordnen kann.
Sofort eilen Marion und ich los. Es geht wohl um das Mädchen.

Als wir kurz später die Situation sehen, schauen Marion und ich uns gegenseitig betroffen an. Es ist nie schön, wenn ein Patient die Behandlung verweigert. Und man muss sich immer nach dem Warum fragen. Für uns ist es meist unverständlich wenn wir zu einem Unfallort kommen und der Verletzte lehnt Hilfe einfach ab. Heißt das wir sollen beim Leiden zusehen?
In jedem Fall braucht man viel Feingefühl und im schlimmsten Fall hilft nur Beruhigungsmittel. Ist leider auch schon vorgekommen.

Ich gehe weiter nach vorne und verdränge meine Kollegen sozusagen, indem ich mich zu dem Mädchen knie.
„Was ist passiert?" frage ich in ruhigem Ton.
„Sie hat anscheinend...", „Sie lässt sich nicht die Weste anziehen", wird Katja von Alex unterbrochen.
Also richte ich meine ganze Aufmerksamkeit Jola zu und erkläre ihr, dass ich ihr nichts weiter tue, als ihr in die Jacke zu helfen.
Anscheinend steht noch etwas anderes im Hintergrund, was unsere Patientin wohl ablehnt, aber dass sie erstmal im Warmen ist, ist vorderrangig. Zumindest in diesem Moment, wenn sie das andere sowieso nicht zulässt.

Marion setzt sich hinter das Mädchen und stützt den Oberkörper von Jola, während ich ihr behutsam das Kleidungsstück umlege. Zum Glück lässt sie es machen.

„So, und jetzt lässt du uns mal gucken!" wendet Alex ein.
Das Mädchen schüttelt panisch den Kopf.
„Das wäre jetzt aber auch wirklich dringend, weißt du? Sonst können wir dir nicht helfen", redet Katja besorgt auf sie ein.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir mit Druck hier weiter kommen...
„Wie alt bist du?"
Sie antwortet mir schüchtern: „16 Jahre"
Sie ist also nicht volljährig, so hätte sie allerdings auch nicht ausgesehen, ich wollte eigentlich nur Kontakt zu ihr aufbauen.
„Sollen wir deine Eltern anrufen?", meint Katja.
„Ich versuche doch die ganze Zeit sie anzurufen!" gibt das Mädchen preis.
„Du kannst sie also nicht einmal erreichen?", fragt Phil nach, Jola wird auf seine Aussage hin komplett rot im Gesicht. Als hätte sie etwas Falsches gesagt und müsste sich schämen.
Naja, ich hätte auch erwartet, dass ihre Eltern davon wissen und schon auf dem Weg sind, sie abzuholen.

„Also bringen wir sie gleich in die Klinik?" unterbricht Alex die merkwürdige Stille.
„Nein nein, nicht ins Krankenhaus!" ruft Jola ängstlich.

Jola
Alles ist besser als die Klinik!
Oh, wenn meine Eltern das wüssten... wie soll ich das alles wieder gerade biegen?!
„Das muss aber sein..." sagt Phil mit einem traurigen Lächeln.
Katjas Antwort gefällt mir etwas besser: „Oder du lässt uns zumindest die Vorsorgebehandlung machen"
Ich muss das Angebot annehmen, ich habe keine andere Wahl, es ist das geringere Übel.

Im Dienst (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt