Pausenloses Lernen

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Jola
Aus welchem Grund auch immer, haben ein paar Krankenpfleger beschlossen, mich geradezu zu überwachen. Sehr eigenartig.
Denn immer wieder hat jemand in mein Zimmer gesehen, öfters als normal. Das hat mich sehr unruhig gemacht. Glauben die wirklich, ich merke das nicht?! Und was ist eigentlich los? Stimmt etwas nicht??

Dann hat sich auch noch eine Krankenschwester aus heiterem Himmel zu mir ans Bett gesetzt und schlug vor, gemeinsam Karten zu spielen. Ich willigte ein und eigentlich hat es auch viel Spaß gemacht. Wahrscheinlich haben sie von Tabea den Auftrag bekommen, mich abzulenken, weil ich ja heute noch die Entscheidung über meine nahe Zukunft erfahren werde.
Ich möchte eigentlich auch gar nicht darüber nachdenken... wenn sie mich in eine Pflegefamilie stecken, laufe ich wieder weg!
Also das Kartenspiel habe ich eigentlich genossen. Ich habe dieses Gespräch ganz vergessen...

Aber als Tabea mein Zimmer betritt, ist mein Puls und Herzschlag wieder hoch und überschlagen sich gefühlt in meinem Körper! So schlimm ist meine Panik nicht mal vor einer Prüfung in der Schule! Schließlich geht es auch um mein Leben...
Erwartungsvoll sehe ich in ihre Augen und kann die Verkündung der Entscheidung kaum abwarten! Tabea macht es besonders spannend und spannt mich richtig auf die Folter! Ich kann keine einzige Emotion in ihrem Gesicht erkennen.

„Du bleibst auf jeden Fall noch mindestens eine Woche hier bei uns in der Klinik!", plötzlich strahlt sie und sieht komplett glücklich aus.
„Warte, was?! Also doch keine Pflegeeltern?" ich kann meinen Ohren trotzdem nicht trauen.
„Ja, keine Pflegefamilie! Und wenn in dieser Probewoche alles gut läuft, darfst du hier bleiben und wohnen! Du müsstest auch ab übermorgen wieder zur Schule..." bestätigt mir Tabea.
Wow.
„Ich weiß nicht was ich sagen soll..."
„Alles gut! Findest du das in Ordnung hierzubleiben?" Meint sie ruhig.
„Ja, auf jeden Fall"
Ob es „auf jeden Fall" das richtige ist, weiß ich nicht. Aber besser als alles andere ist es schon, auf jeden Fall.

„Freust du dich nicht?"
„Doch doch!" antworte ich schnell, vor Angst zu undankbar zu wirken.

Tabea Rhode
Komisch, ich dachte Jola würde sich mehr freuen über die neue Nachricht. Zumindest war es fast unmöglich auszuhandeln, dass sie hier bei uns bleiben darf und sie hat es sich doch auch so sehr gewünscht! Jetzt ist sie einfach nur nachdenklich und in sich gekehrt. Am liebsten hätte ich, sie würde mit mir reden. Dann wissen wir das Problem und man kann so einiges tun. Ich merke jedoch, dass Jola gerade nicht offen ist für ein Gespräch und dann nützt es nichts, sie dazu zu drängen.

Als ich den nächsten Tag ihren Zustand überwache, bleibt alles gut, auch psychisch hält sich Jola noch immer sehr gut. Sie ist den ganzen Tag am Lernen, um den verpassten Schulstoff nachzuholen. Das zeigt uns dann doch auf indirekte Weise, sie bemüht sich und möchte auf jeden Fall hier bleiben, so anstrengend es auch ist.
Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass ihr etwas schwer am Herzen liegt. Sie wirkt erschöpft obwohl ihre körperlichen Werte dem Symptom nicht entsprechen und ganz ehrlich, sie scheint sich mit dem Lernen nur von irgendetwas abzulenken...

Vielleicht bringe ich Jola bei der Abendvisite dazu mit mir zu reden.
Als ich sie vor der Bettruhe im Zimmer besuchen komme, sitzt sie noch immer aufrecht im Bett und starrt in ihre Schulbücher.
„Guten Abend, Jola, bist du denn noch immer am Lernen?!"
Unerwartet reagiert das Mädchen gar nicht.
Ihre Werte sind normal und eingeschlafen ist sie auch nicht! Ist sie vielleicht zu vertieft in den Lernstoff?!
„Jola, alles in Ordnung?" frage ich und nehme ihr das Buch sanft aus der Hand.
Erst jetzt wird sie auf mich aufmerksam und kann Blickkontakt halten.

„Wieso bist du denn noch immer am Lernen?!" frage ich besorgt.
Sie schaut nur beschämt zu ihrer Bettdecke hinab. Irgendetwas stimmt doch nicht!
Ich versuche mich langsam und vorsichtig an sie heranzutasten, um ihr Vertrauen zu gewinnen, hoffentlich wird sie nicht misstrauisch!
„Du musst doch wirklich nicht die ganze Nacht durchmachen, das verlangt niemand von dir! Außerdem wieso willst du so spät dir noch alles merken, dein Gehirn ist doch schon so überanstrengt, dass du dir sowieso nichts mehr merken kannst."
Alles was ich als Antwort bekomme, ist ein leises „Hm".

Ich seufze.
Wie finde ich einen Zugang zu ihr?
Ich beschließe mich einen Schritt weiter zu gehen und nehme leicht ihre Hand und lege sie in meine.
Dann rede ich auf sie ein: „Jola, irgendetwas stimmt doch nicht.. das macht mir echt Sorgen, du kannst mit mir doch über alles reden"
Lange bleibt dieser Satz einfach so im Raum stehen und wir beide bleiben still.

Auf einmal schaut sie doch zu mir hoch: „Tabea?", fragt sie unsicher.
Gespannt nicke ich und höre ihr aufmerksam zu.
„Ich habe Angst morgen vor der Schule"
Ein Stein fällt mir vom Herzen! Endlich hat sie von sich aus geredet! Nun kann ich ihr auch weiterhelfen!
„Angst, dass du wieder gemobbt wirst?"
Schüchtern bejaht das Mädchen.

„Okay, hör mal, wir haben mit deinen Lehrern gesprochen und sie wissen alle von den Vorfällen. Von daher werden sie sofort eingreifen, wenn sie irgendeine Gewalt vermuten. Und die Täter* haben auch schon lange eine Strafe für ihr Verhalten bekommen. Also sollte da eigentlich alles bereinigt sein. Aber wenn du willst, kann ich noch gerne mit deiner Klassenlehrerin telefonieren und sie nochmals darum bitten, dass ein Auge auf dich geworfen wird"
Nun schüttelt sie hastig den Kopf.
„Und warum nicht? Ich meine, wenn du Angst hast, ist es doch am besten, Du weißt dass immer jemand in der Nähe ist und aufpasst"
Ich hätte es schon wissen müssen, dass ich auf diese Frage keine Antwort erhalte. Jola scheint auch irrsinnig müde, aber kein Wunder, so viel wie sie heute gebüffelt hat!

„Du hast doch nicht etwa Angst, als Last zu gelten, wenn sich die Lehrer extra Zeit nehmen, oder?" frage ich ganz behutsam an das Mädchen gerichtet.
Diesmal braucht sie nichts zu sagen, ich erkenne an ihrem Blick, die Aussage trifft völlig zu.
„Mensch Jola, mach dir doch darüber keine Gedanken! Die Lehrer haben sich doch auch total Sorgen um dich gemacht und wussten nicht richtig, was los ist und wie sie dich unterstützen können. Wenn sie wissen was sie tun können, sind sie nur glücklich und sie würden das bestimmt gerne übernehmen!"
Daraufhin nickt sie leicht und schenkt mir ein kurzes Lächeln, das ich erwidere.
„Okay, dann telefoniere ich heute noch gleich, dass du morgen beruhigt sein kannst, ja?"
Jola scheint ohne Zweifel weniger belastet. Zum Glück konnten wir das noch klären!

„Ich finde es auch sehr mutig von dir, dass du darüber geredet hast!", muss ich ihr noch unbedingt rückmelden: „Das ist ganz wichtig, nuh?"
Sie nickt, aber kann gleich darauf ihre Augen nicht mehr offen lassen. Zumindest kann sie jetzt beruhigt schlafen! Und ist doch viel besser, sie hat sich anvertraut als ihre Emotionen wieder irgendwie anders auszulassen! Das ist doch viel viel besser so!

* Funfact *
Ich hatte vorhin tatsächlich bei *Täter* einen Tippfehler als *Töter* haha. Hauptsache Töter statt Mörder

Im Dienst (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt