Frage um die Wahrheit

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Tabea Rhode
Leider entwickelt sich das Gespräch mit Jola tatsächlich so wie ich erwartet habe und meine Befürchtungen werden bewahrheitet.
Das heißt, dass das Mädchen zuhause psychischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt war. Das muss nun ein Ende haben!

Das Mädchen liegt noch immer weinend in Paulas Armen. Ich kann nicht sagen, wie leid es mir tut. Doch ich weiß, es kann jetzt besser werden. Erst jetzt können wir die richtigen Maßnahmen ins Leben rufen und versuchen dem Mädchen bestmöglich zu helfen.

Ich werfe Paula noch einen Blick zu, der von einem zustimmenden Nicken beantwortet wird. Sie kommt also alleine klar und ich verlasse das Zimmer, um mit den Eltern ein weiteres Gespräch zu führen.

Im Warteraum finde ich die beiden Elternteile vor und gehe auf sie zu.
„Können wir sie sehen?" fragen sie sofort bettelnd nach.
„Zuerst muss ich mit Ihnen reden" zerstöre ich die Vorfreude.
Ich vermute sowieso, dass sie das alles nur vortäuschen. Sie ahnen wahrscheinlich schon, dass ihr Geheimnis langsam ans Licht kommt und sie wollen eben keine Probleme haben. Verstehe ich, das möchte niemand...

Ich setze mich ihnen gegenüber und atme nochmal tief ein und aus, bevor ich zu sprechen beginne, denn auch für mich ist die Situation nicht leicht.
„Also, wir haben ja schon mal darüber ein wenig geredet, nuh? Das Problem ist, es hat den Anschein, dass Jola zuhause psychischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt ist..."
„Aber jetzt ganz ehrlich, wie kommen Sie denn da drauf?!" unterbricht mich die Mutter erzürnt.
„Ihre Tochter hat gerade zugegeben, dass ihr Vater ihr das Hämatom zugefügt hat"
„Was?! Mein Mann würde so etwas niemals tun!" verteidigt sie den Vater.
Es ist alles andere als lustig in solchen Fällen dabei sein zu müssen...
„Verstehe, wir werden trotzdem das Jugendamt einschalten müssen, die kennen sich nämlich mit dem ganzen besser aus" erkläre ich in ruhigem Ton.
Wie froh bin ich Ärztin zu sein und nicht diesen harten Job einer Sozialarbeiterin übernehmen zu müssen! Aber jeder hat natürlich seine eigenen Stärken.

„Nein, das geht doch nicht! Vorhin haben Sie noch gemeint, es reicht ein Familienhelfer!" ruft die Mutter verzweifelt aus.
„Ja, aber..."
„Hören Sie, vielleicht handelt es sich hier auch nur um ein Missverständnis! Wir lieben unsere Tochter über alles! Und wie gesagt, wir haben uns auch schon Sorgen gemacht. Vielleicht hat Jola das nur gesagt um von der Wahrheit abzulenken und uns Eltern damit zu beschuldigen" unterbricht mich der Vater.
Ich denke kurz nach, natürlich versucht jetzt jeder dem anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Und was ist, wenn die Eltern doch Recht haben?
Ich denke, es ist besser, ich urteile nicht darüber. Dafür braucht man ein umfassenderes Bild.
„Okay, ich werde jetzt einmal das Jugendamt informieren und das wird sich um den Fall kümmern. Ob das nun stimmt wie Sie sagen oder nicht, kann ja dann herausgestellt werden"

Zum Schluss erlaube ich den Eltern, ihre Tochter zu sehen, unter der Bedingung, dass sie unter Aufsicht sind.
Das übernimmt eine Krankenschwester für uns. Sie hat uns jedoch nur weiterleiten können, sie hätten sich wie eine normale Familie verhalten.

Paula Martinson
Nachdem Tabea ihre Schicht beendet hat und das Jugendamt bereits informiert ist, wende ich mich wieder Jola zu.
Als ich sie begrüße, richtet sie sich sofort auf und beginnt zu reden: „Es tut mir leid, das alles ist ein ganz großes Missverständnis!"
Ich sehe das Mädchen verwirrt an, aber setze mich daneben hin, um aufmerksam zuzuhören.
„Ich habe erzählt, mein Vater hätte mich geschlagen, aber das stimmt nicht!" spricht sie mit zitternder Stimme.

„Ganz ruhig, erzähle einmal alles von Anfang an"
„Ich habe nicht gewusst, dass das ganze so ausgeht! Ich wollte meinem Vater nichts Böses! Es ist nur..."
Das Mädchen macht eine kurze Pause. Ich greife wieder nach ihrer Hand, um sie zu beruhigen, aber sie zieht ihren Arm sofort von mir weg.
Danach setzt sie wieder an zu sprechen: „Ich werde gemobbt in der Schule und ich wollte das nicht sagen. Daher ist das Hämatom und ich dachte, wenn ich die Schuld auf meine Eltern schiebe, passiert nichts. Bitte seien Sie nicht böse auf die anderen Schüler!"
Nachdem sie den letzten Satz beendet hat, richtet sie ihren Blick zu Boden.

Ich weiß nicht was ich von dem ganzen halten soll. So wie sie es ausgesprochen hat, klingt es als wäre es die Wahrheit. Allerdings kann ich mir gut vorstellen, wie groß der Druck ist, die Eltern zu beschützen.
Ich sehe das Mädchen nachdenklich an.

Schließlich entscheide ich mich dafür, Hilfe dazuzuziehen. Das Mädchen ist so verzweifelt...

Charlotte Engel
In meiner Pause bekomme ich unerwartet eine Nachricht von Paula. Sie möchte, dass ich auf die Pädiatrie komme, denn es geht um das Mädchen, welches ich vor Kurzem aufgefunden habe. Anscheinend ist die Situation sehr schwer und es sollte sogar das Jugendamt eine Unterkunft für Jola finden.

Als ich das Zimmer betrete, sitzt das Mädchen verschreckt auf ihrem Bett. Paula redet ruhig auf sie ein.
„Schau, das Jugendamt wird sich jetzt sowieso um das ganze kümmern"
„Was?! Aber es ist doch halb so schlimm!" ruft Jola panisch.
Ich geselle mich zu den beiden.
„Also ich finde dein Zustand war sehr schlimm und gut ist es noch immer nicht" gebe ich zu Bedenken.
„Meine Eltern haben nichts damit zu tun!"
„Wir können verstehen, dass du Angst hast, und es ist in jeden Fall nicht leicht. Aber weißt du, auch Eltern können Fehler machen und dann ist es nun mal nicht verkehrt, eine Weile nicht zuhause zu leben. Zumindest bis wieder alles normal läuft"
„Aber ich will nachhause" wimmert das Mädchen.
„Das haben wir jetzt schon zu Genüge gehört" meine ich mit einem Lächeln, „Glaube mir, es wird dir besser gehen, wenn du kurz eine Auszeit hast. Alle wollen nur, dass es dir besser geht, weißt du? Wir sagen das alles ja nicht um dich zu quälen"
„So fühlt es sich aber an..." murmelt das Mädchen undeutlich aber doch hörbar.
„Das glauben wir dir auch... was auch immer passiert, du musst nicht alleine da durch! Dafür ist auch das Jugendamt da, wir werden dir da raus helfen und dann wirst du sehen, dass es besser wird. So kann es zumindest nicht weitergehen", meint Paula.
„Genau, und um deine Eltern mach dir mal keine Sorgen, die sind groß genug und werden auch noch Unterstützung bekommen" rede ich weiter.

Jola beginnt panisch an ihrer Hand zu kratzen, weshalb ich ihre Hände in meine Hände lege.
„Es wird alles gut" sage ich zu ihr, bemüht ihr die Angst ein wenig nehmen zu können.

Nach einer Weile beruhigt sich das Mädchen wieder und fällt dann in einen tiefen Schlaf. Das ist alles viel auf einmal...

Im Dienst (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt