Fabelblut

Die Eirenen

„Und?" Roxy springt auf, als ich das Kapitel betrete. Sie sind alle am hohen Tisch versammelt: Eric, die Arme verschränkt, Faustia, wie immer mit geerdeter Gelassenheit, Nicolas, hinter ihrem Stuhl auf- und abgehend wie ein nervöser Tiger.

„Hast du die Formel?" Roxy stützt sich an der Tischkante, um ihr Schwanken abzufangen, weil sie zu schnell aufgestanden ist. „Gott, sag mir, dass du sie dir aufgeschrieben hast!"

„Aufschreiben? Ich bitte dich!" Grinsend hebe ich mein Smartphone. „Wir sind im 21. Jahrhundert." In ein paar Schritten bin ich bei ihnen und lege das Handy auf die Tischplatte. Während sich die Alumni um mich scharen und die Köpfe zusammenstecken zoome ich das Bild mit Zeigefinger und Daumen näher. Es ist nicht gerade die schärfste Aufnahme, die Belichtung könnte besser sein, aber das Wichtigste kann man trotzdem erkennen:

Myrthas Schöpfungsformel.

Dieses Buch war der Anfang,

dieses Buch ist der Schlüssel.

Aber erst, wenn die Zeit sich erfüllt

Wenn Wächter sich sammeln

Wo Mörder einst standen

Am Tisch entweiht

Auf alle Zeit.

Wenn der Ostermond das Dunkel bezwingt

Und die Schwester das Opfer erbringt.

Wenn Blut und Buch

Lösen der Ahnin Fluch.

Dann erst werden Himmel wie Erde vergehen,

Und von neuem erstehen.

„Dann ist es wahr." Nicolas sinkt auf seinen Stuhl, das Gesicht aschfahl. „Er hat Eleanor geopfert."

Ich nicke und in meiner Kehle schmecke ich plötzlich etwas Bitteres. „Wenn Blut und Buch lösen der Ahnin Fluch. Das Blut hat Damon jetzt. Das Tagebuch auch. Fragt sich auf was er noch wartet."

„Na das ist ja wohl klar", sagt Faustia mit gewohnt altkluger Stimme. „Wenn der Ostermond das Dunkle bezwingt. Ostern wird immer am Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling gefeiert. Deswegen verschiebt sich ja auch jedes Jahr der Termin. Damon braucht genau diesen Vollmond, um das Ritual auszuführen."

Eric wirft einen Blick auf sein Handy. „Der erste Frühlingsvollmond ist dieses Jahr in der Nacht vom sechsten auf den siebten April."

„Aber das ist in ein paar Wochen!" Roxy macht ein paar Schritte auf mich zu, die Augen aufgerissen. „Wir müssen sofort mit den Verteidigungsmaßnahmen beginnen!"

„Und was willst du verteidigen?", fragte Eric kühl. „Wir wissen zwar wann aber nicht wo Damon das Ritual ausführen will. Es könnte überall sein, in Fabelreich, in der Menschenwelt..."

Mit gerunzelter Stirn beuge ich mich erneut über mein Handy. „Wenn Wächter sich sammeln, wo Mörder einst standen, am Tisch entweiht, auf alle Zeit. Das muss der Ort sein."

Nicolas schnaubt. „Ne sehr präzise Angabe."

„Vielleicht ist es das Kapitel", überlegt Faustia, „der hohe Tisch der Alumni. Hier tagt das Gericht. Mit Mörder sind sicher die Männer gemeint, die Myrtha damals zum Tode verurteilt haben, als man sie der Hexerei anklagte."

„Hier tragt unser Gericht", sagt Eric. „Wir wissen nicht, wo Menschen vor fünfhundert Jahren ihre Hexenprozesse geführt haben. Vielleicht ist der Ort irgendein zerstörtes Rathaus in den Highlands. Das Kolleg kennt nicht mal den ehemaligen Standort von Stormglen Manor, bevor Hecate es nach Fabelreich verschoben hat. Und selbst wenn wir es wüssten, heißt das nicht, dass der Prozess wirklich hier geführt wurde. Vielleicht war es in Aberdeen oder Edinburgh oder in irgendeiner anderen Stadt."

Nicolas wirft Eric einen angesäuerten Blick zu. „Du fühlt dich auch richtig wohl in der Rolle des Spielverderbers, oder?"

„Was heißt hier Spielverderber? Einer muss Realist bleiben."

„Wenn die Herren mal einen Moment schweigen würden", unterbricht sie Faustia, „dann darf ich euch vielleicht auf etwas hinweisen: Da steht am Tisch, wo Mörder einst standen. Standen. Nicht saßen. Merkwürdiges Detail, oder? An welchem Tisch steht man denn zu Gericht?"

Eric und Nicolas schweigen.

„Fällt mir ehrlich gesagt nur eine Bar ein", sagt Roxy und ich kommentiere den Gedanken mit einem Glucksen. „Womöglich war es ja einfach ein Stehtisch? Gab's sowas im 16. Jahrhundert schon?"

Eric schüttelt den Kopf, offenbar nicht in der Stimmung für Humor. „Vielleicht bedeutet das was, vielleicht auch nicht. Kann genauso Zufall sein. Das bringt uns nicht weiter."

„Er hat Recht." Ich nehme mein Handy wieder an mich und lasse es in die Tasche gleiten. „Wir könnten Asteria fragen. Aber wenn sie keinen Rat weiß, dann müssen wir auf eigene Faust suchen."

„Und wenn wir den Ort nicht rechtzeitig finden?", fragt Roxy.

Ich schlucke. „Dann müssen wir das Kolleg evakuieren. Alle Wächter sollten Fabelreich rechtzeitig verlassen und so viele Fabelwesen mitnehmen, wie möglich. Wenn Damon sein Ritual durchgeführt hat, kommt hier niemand mehr raus."

„Man kann ein Fabelwesen nicht mit einem Portalbuch transportieren!", sagt Eric.

„Kann man schon." Nicolas legt die Stirn in Falten. „Bei den Rebellen haben wir es versucht. Aber die Dinger verlieren sofort ihre Kräfte, wenn man nicht-menschliche Wesen in die Menschenwelt mitnimmt. Wahrscheinlich ne Art Kindersicherung von Hecate, damit auch wirklich kein Fabelwesen entkommen kann, selbst wenn ihm mal ein abtrünniger Wächter helfen will. Ein Fabelwesen pro Portalbuch, mehr geht nicht."

„Wir könnten One-Way-Tickets nehmen", überlege ich.

„One-Way-Tickets werden aus kaputten Portalbüchern hergestellt", sagt Eric ungeduldig, als könne er nicht begreifen, wie ich so dumm sein kann. „Was glaubst du, woher sie ihre Magie nehmen? Von denen haben wir nicht mehr viele. Und sicher nicht genug für alle magischen Wesen Fabelreichs. Mal davon abgesehen: Was passiert, wenn von einem Tag auf den anderen Tausende von Fabelwesen in unserer Welt einfallen? Auf einmal, ohne Vorbereitung. Willst du einen Krieg provozieren?"

Ich beiße mir auf die Lippe. „Wir müssen trotzdem so viele rausschaffen, wie es geht. Das sind wir ihnen schuldig."

Eric schnaubt, aber Nicolas, Roxy und Faustia nicken.

„Also was jetzt, Priorin?", fragt Roxy. Ihre Stimme klingt, als würde sie im Geist schon das Messer wetzen.

„Jetzt suchen wir. Überall. Wir gehen jedem noch so kleinen Anhaltspunkt nach. Und wir rüsten uns, sollte es zur Konfrontation mit Damon kommen. Nicolas, vereinbare ein Treffen mit den Rebellen. Eleanor hat ein Bündnis geschlossen. Das werden wir erneuern."

„Glaubst du, sie werden dazu noch bereit sein?", fragt Eric skeptisch. „Jetzt wo Eleanor..."

„Ich weiß es nicht. Aber Asteria glaubt daran. Wir müssen eh mit ihr über die Sache sprechen. Das Kolleg hat das Triumvirat zu lange ignoriert." Nicht jedes Monster ist ein Feind. Nicht jeder Feind ist ein Monster. War das nicht Asterias Rat an mich? „Ich stehe zu meinem Wort. Es wird Zeit für uns, Freund und Feind neu zu definieren."