Die Eirenen (2)

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Als ich durch den Kreuzgang in den Innenhof hinter der Eingangshalle laufe, kann ich den Frühling in der Luft schon riechen.

Er ist dieses Jahr ungewöhnlich früh nach Fabelreich gekommen. Unter meinen Füßen wird das Gras schon hellgrün, hier und da gesprenkelt von gelben Löwenzahnköpfen. Normalerweise bekomme ich allein von ihrem Anblick schon gute Laune. Ich habe sogar eine Regenjacke und mehrere Wollpullover in genau diesem Gelbton. Löwenzahn bedeutet für mich Frühling und Frühling bedeutet, dass die Gartensaison startet. In meiner Welt würde es mir längst in den Fingern kribbeln. Sobald der Boden nicht mehr gefroren wäre, würden meine Hände in der Erde wühlen, alte Wurzeln ausreißen und die ersten Samen einsähen.

Dieses Jahr kann ich das alles vergessen. Es ist schon schwer genug, Schule und Fabelreich unter einen Hut zu bringen, da brauche ich an Gartenarbeit gar nicht erst zu denken. Solange Damon Blackwell als fleischgewordenes Damoklesschwert über meinem Priorat schwebt, bedeutet der Beginn des Frühlings nur, dass der sechste April näher rückt. Ohne dass wir der Lösung des Rätsels auch nur ein Stück näher gekommen wären. Dieses Jahr heißt Frühling Ende, nicht Neubeginn. Das Ende einer Ära, das Ende der Wächter. Jede aufgehende Blüte, jedes neue grüne Blatt ist ein fassbares Zeichen meines Versagens, meiner ablaufenden Zeit. Lebendige Sandkörner, die durch ein unsichtbares Stundenglas rinnen.

Und dann ist da noch ein anderer Teil von mir. Ein dunkler, egoistischer Teil, dem es fast körperlich wehtut, wenn er an bunte Blumen und Sonnenschein denkt. An die aufkeimenden Frühlingsgefühle überall, die gute Stimmung, das Lachen von Familien oder Pärchen in Eisdielen und Parks. Dieser Teil kann es nicht ertragen, dass die Welt feiert und Spaß hat, als wäre nie etwas geschehen. Als wäre Eleanor nicht gestorben und Mo nicht fortgegangen. Eigentlich dachte ich, wenn wir endlich Gewissheit über ihren Tod hätten, würde es das irgendwie besser machen. Dass ich dann damit abschließen kann. Aber das Gegenteil war der Fall. Die Abwesenheit der beiden ist wie ein ständiges, bleiernes Gewicht in meinem Magen.

Am liebsten hätte ich den Januar zurück. Den Nebel, die Kälte und die Winterstürme. Keiner würde mich fragen, warum ich nicht draußen bin, sondern allein auf dem Sofa im Kollegium sitze, eingewickelt in Eleanors karierte Decken. Vielleicht könnte ich dann sogar in Ruhe weinen.

Ich weiß, dass es auch Stress und ungeweinte Tränen sind, die mir auf den Magen drücken, aber ich kann es nicht ändern. Nicht solange mein ganzer Körper unter Spannung steht, in ständigem Wechsel zwischen Kampf und Flucht. In der Schule fällt es mir zunehmend schwer, den Stoff ernst zu nehmen. Wen interessieren schon die binomischen Formeln oder Latein Vokabeln, wenn er ein ganzes Land zu verwalten hat? Zum Glück beginnt bald mein "Praktikum". Dann habe ich zumindest dieses Problem los. Nicht, dass dadurch viel leichter wird. Es gibt einfach niemanden mehr, auf den ich mich stützen könnte. Ich bin jetzt die Schulter, an die man sich anlehnt, die Anführerin, in die man Vertrauen setzt.

Nie zuvor in meinem Leben habe ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie einsam Verantwortung machen kann.

Eigentlich sollte ich jetzt gerade an meiner Rede für heute Abend feilen. Als Priorin werde ich vor dem Triumvirat sprechen und was auch immer ich sage, es sollte besser überzeugen. Dummerweise habe ich eine große Schwäche beim Schreiben: Je wichtiger der Anlass, desto schlechter der Text. Meistens ist es mein eigener Anspruch, der mich lähmt, bis ich irgendwann vor der leeren Seite sitze und gar nichts mehr rausbringe. Dann fange ich an zu prokrastinieren. So auch jetzt. Ich esse (obwohl ich keinen Hunger habe und alles wie Pappe schmeckt), besuche Demetra und jammere ihre die Ohren voll (im Moment keine besonders aktive Zuhörerin) oder gehe spazieren (blöde Blumen). Nichts stellt mich lange zufrieden. Das einzige, was mich wirklich ablenkt, ist Gesellschaft. Ich muss mir selbst entkommen und das schaffe ich nicht, wenn ich an meinem Schreibtisch hocke und brillante Gedanken aus meinem Kopf ziehen soll.

Roxy und Faustia sitzen unter dem Stamm einer großen Linde, die Beine von sich gestreckt und unterhalten sich leise. Als sie mich kommen sehen, winkt mir Roxy schon zu.

„Hi." Ich lasse mich im Schneidersitz neben sie ins Gras sinken.

„Hey, Fremde." Roxy zwinkert. „Schön, dass du mal wieder aus deinen stillen Kämmerchen rausschaust."

„Tut mir leid. Ich wollte schon längst nach euch sehen. Wie geht's euch?"

„Mit unserem neuen Amt?", fragt Roxy und runzelt die Stirn.

„Mit allem."

„Die Zeit hilft", sagt Faustia und wie immer klingt ihre Stimme merkwürdig ernst. „Der Kontakt zur Erde. Draußen bin ich ihr näher als in diesem Gewächshaus, habe ich das Gefühl. Sie hat sie geliebt, diese ersten Tage im Frühling. Da war sie immer am meisten sie selbst."

Ich schweige, nicke. Es ist klar, wen Faustia meint.

Roxy dreht sich zu mir. „Und wie geht es dir?"

„Passt schon. Viel zu tun."

„Was macht die Rede?"

„Frag besser nicht."

„So schlimm?"

„Schlimmer." Ich fahre mir mit den Fingern über die Stirn. „Ich glaube, ich werde es heute Abend richtig versauen."

„Quatsch!" Roxy winkt ab. „Du bist die geborene Rednerin! Frag Faustia. Wir hatten Gänsehaut nach deiner Ansprache im Kapitel."

Faustia sieht mich nachdenklich an und wieder mal habe ich das Gefühl, sie sieht mit ihrer ruhigen Art mehr als andere. „Was ist los, Lina?"

„Nichts." Ich weiche ihrem Blick aus. „Es ist...die meiste Zeit habe ich einfach keine Ahnung, was ich tue. Ob meine Entscheidungen richtig sind. Ich fühle mich so..."

„...allein", beendet Faustia den Satz für mich.

Roxys Blick wird sanfter. „Du weißt, dass du uns hast? Wir sind für dich da. Wir können dir Dinge abnehmen."

„Das tut ihr doch schon die ganze Zeit. Und ich bin froh drum. In gewisser Weise war die Entscheidung, keine Entscheidungen allein zu treffen meine beste Entscheidung." Ich gluckse. „Traurig aber wahr."

„Es gehört Weisheit dazu, seine Grenzen zu kennen", sagt Faustia. „Macht abzutreten."

„Diese Rede kann ich leider nicht abtreten. Und immer, wenn ich mich dran setze. Wenn ich es versuche...", ich schlucke, „...es ist anders, als vor dem Kolleg. Ich kann ja jetzt nicht so wütend sein. Jemand, der das Kolleg vertritt muss mehr...naja...Politiker sein. Das Triumvirat will eine zweite Eleanor hören. Was ich nicht bin. Also dachte ich, es ist besser, mich abgrenzen. Aber immer wenn ich sie aus der Rede streiche, ihre Art, ihre Stimme, dann fällt alles auseinander. Inklusive mir."

„Lina." Roxy schaut mir in die Augen. „Du bist nicht die einzige, die jemanden verloren hat."

Auf ihre Worte hin, presst Faustia die Lippen zusammen und lehnt sich mit geschlossen Augen an den Stamm zurück, als müsste sie die Berührung erden.

„Ich weiß", flüstere ich.

„Trauer macht einsam", murmelt Faustia. „Sie flüstert dir ein, dass du die einzige bist, für die es so schlimm ist. Dass niemand dich verstehen kann. Aber sie lügt."

Roxy nickt. „Du musst nichts von all dem allein tragen. Wir sind für dich da, immer. Wenn du meinen Rat willst: Halte diese Rede, wie du die Rede vor dem Kolleg gehalten hast. Mit allen Gefühlen. Lass Eleanor zu Wort kommen, wo sie aus dir spricht. Genau wie all deine anderen Seiten. Deine Trauer. Deine Wut. Zeige ihnen, was Blackwell getan hat. Sei ehrlich. Keiner von uns erwartet, dass du perfekte Entscheidungen triffst oder perfekte Reden hältst. Okay?"

Ich hole tief Luft. „Okay. Gut, dass es euch zwei gibt. Echt."

„Ja, du hast Recht." Roxy schnaubt belustigt. „Uns beiden den Job der Alumni zu geben, war keine ganz schlechte Entscheidung deinerseits."

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