„Die Sache gefällt mir nicht."
Ich verdrehe die Augen und schaue aus dem Fenster, wo der geteilte Wald in verschwommenen Brauntönen an uns vorbeizieht. Gegenüber von mir, auf der anderen Seite der Kutsche, sitzt Nicolas mit verschränkten Armen und schmollt.
„Du solltest mich an deiner Stelle gehen lassen", sagt er und nicht zum ersten Mal. Sie alle haben es mir angeboten: Eric und auch Roxy. Aber ich habe jedem das gleiche entgegnet: „Für das Kolleg zu verhandeln ist Aufgabe der Priorin. Und mal davon abgesehen", ich werfe Nicolas einen Seitenblick zu, „kann nur jemand zu Damons Prozess reisen, den er damals noch nicht kannte. Da fällst du ja wohl raus."
Nicolas schiebt die Lippe vor und wendet den Blick ab. Draußen scheint der Wald endlos zu sein. Noch keine Spur von der Siedlung. Dem Ort, unter dessen Klippen sich angeblich die sagenumwobenen Hallen von Eleos befinden.
Mit der Kutsche anzureisen ist gar nicht mal so schlimm, wie ich dachte. Könnte natürlich dran liegen, dass sie von geflügelten Pferden gezogen wird, und immer ein paar Zentimeter über dem Boden schwebt. Das vermeidet schmerzhafte Schlaglöcher. Ein Auto wäre mir zwar lieber gewesen, aber bekanntermaßen verweigert sich Fabelreich dieser modernen Technik.
Ich beobachte Nicolas so aufmerksam wie die ganzen letzten Tage nicht. Die Sehen an seinem Hals sind angespannt, er schiebt den Kiefer hin und her. Auf seiner Stirn sind Falten und die dunklen Schatten unter seinen Augen lassen sein Gesicht merkwürdig hohl und ausgezehrt wirken.
„Du brauchst dir echt keine Sorgen um mich zu machen", sage ich leise.
Das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Laut Asteria muss man sich um jemanden, der mit Eleos einen Handel eingehen will, sehr wohl Sorgen machen. Eleos ist dafür bekannt, unwürdige Handelspartner, die ihn durch niedrige Gebote beleidigen, zu bestrafen. Manch einer verschwindet auf hoher See und wird erst nach Monaten auf einer einsamen Insel gefunden. Andere verbringen ein paar Wochen als Teekanne oder Angelschnur, bevor sie sich zurückverwandeln. Welche Angebote unter die Kategorie unwürdig fallen, scheint allerdings niemand außer Eleos selbst zu wissen.
Alles in allem nicht wirklich verlockende Aussichten. Aber wie Asteria richtig gesagt hat: Nur die Verzweifelten suchen Hilfe bei Eleos. Und wir sind verdammt verzweifelt.
„Natürlich mache ich mir Sorgen um dich", schnaubt Nicolas ohne mich anzusehen. „Eleanor reißt mir den Kopf ab, wenn dir was passiert." Er beißt sich auf die Lippe, als hätte er gerade in diesem Moment erst seinen Fehler bemerkt.
Ich schlucke. Wieder wandern meine Augen über seine hohlen Wangen. Seit Tagen habe ich ihn nicht mehr richtig essen sehen. Wenn ich's mir recht überlege, habe ich ihn eigentlich überhaupt nicht gesehen. Er muss sich zurückgezogen haben, in irgendeinen einsamen Winkel von Stormglen Manor. Meine neue Aufgabe als Priorin hat mich so beansprucht, dass ich außer meinem eigenen Schmerz und meiner Überforderung niemanden mehr wahrgenommen habe. Dabei bin ich nicht die einzige, die Eleanor vermisst. Nicolas muss es ähnlich gehen, wie Eric mit Demetra.
„Wenn du", beginne ich zaghaft, „wenn du reden willst..."
„Ich will nicht reden! Vor allem nicht mit dir." Er stockt. Kopfschüttelnd atmet er aus. Sein Ton verändert sich sofort, wird sanfter. Erschöpfter. „Tut mir leid, Lina. Aber...du bist siebzehn und ich ein erwachsener Mann. Das...du solltest dich nicht um meine Probleme kümmern müssen. Die Bürde, die du zu tragen hast, ist für dein Alter eh schon schwer genug. Zu schwer, meiner Meinung nach."
„Kann ja sein. Aber Bürden werden erfahrungsgemäß leichter, wenn man sie zusammen trägt. Ich vermisse Eleanor auch! Okay, ja, du warst verliebt in sie, vielleicht macht's das schlimmer, aber-"

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Fabelblut
FantasyEigentlich sollte es nur eine Klassenfahrt nach Schottland werden - aber als Lina auf einem Friedhof in Edinburgh plötzlich von einem Geschöpf wie aus einem Fantasybuch angegriffen wird, ändert sich ihr Leben über Nacht. Ehe sie sich versieht, finde...