„Du?" Ich fühle mich, als würde alle Luft in meinen Lungen mit einem Mal entweichen. Ein paar Sekunden schaue ich ihren Hinterkopf an, wie betäubt. Der sich langsam setzende Schock lässt den Klumpen in meinem Hals Richtung Magen wandern. Ich schlucke. „Wie...?"
Sie dreht sich halb zu mir um. „Sagen dir Sokrates und Schierlingsbecher etwas? Oder hatte Eleanor vor ihrem Ableben keine Zeit mehr, dir eine klassische Bildung angedeihen zu lassen?" Ein dunkles Lächeln huscht über ihre Züge. „Nein? Hat sie sicher bereut, als sie starb. Wenigstens eine Sache..."
Ich starre sie an, fassungslos. Meine Stimme zittert. „Du bist ein Monster."
Margret stößt ein schnaubendes Lachen aus, völlig frei von Freude oder Humor. „Hehre Worte von einem Mädchen, das Eleanor und Demetra kennengelernt hat." Sie macht ein paar schnelle Schritte, bis sie die schlafende Demetra überragt. Als sie auf die alte Priorin herabschaut, entsteht ein harter Ausdruck um ihre Mundwinkel. „Sie sieht unschuldig aus, so wie sie da liegt, nicht?" Langsam, beinahe sachte streckt sie zwei Finger aus und streicht Demetra eine lose Strähne aus der aschfahlen Stirn.
Am liebsten würde ich ihre Hand wegschlagen, aber ich kann mich nicht von der Stelle rühren. Es ist, als hätte eine der vielen Pflanzen hier ihre Wurzeln um meine Beine geschlungen und mich an Ort und Stelle gefesselt. Ich bin wie festgenagelt von einer Mischung aus Abscheu und Faszination.
„Du hast mich ans Krankenbett meiner Todfeindin geführt, weißt du das eigentlich? Ich könnte meine Hände, um ihre Kehle legen, aber-"
„Das wirst-"
„-aber warum mir die Finger schmutzig machen, wenn die Zeit es ohnehin für mich erledigt?" Margret zieht einen Mundwinkel nach oben. „Ich vermute, dir kann man keinen Vorwurf machen", murmelt sie, „du hast sie nur so kennengelernt. Aber das hier ist die Frau, die Mortimer seine Mutter weggenommen hat." Sie zögert, die Augen nach wie vor auf Demetra geheftet. „Ich weiß es noch wie gestern. Ein paar Wächter haben mich in ein Krankenhaus in Edinburgh gebracht, kurz vor seiner Geburt. Allein, ohne Damon. Ich erinnere mich an den Sonnenaufgang vor dem Fenster." Ein echtes Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen. „Ich war völlig fertig von der Nacht. Aber als ich Mortimer in den Armen hielt, war plötzlich alles vergessen. Es war so ein seltsames Gefühl. Freude, ja. Aber auch Angst. Größere Angst, als ich je in meinem Leben hatte. Nicht um mich. Um ihn. Ich hätte jedem die Augen ausgekratzt, wenn er versucht hätte, ihn mir wegzunehmen." Margret atmet laut ein. „Sie haben uns eine Woche in Ruhe gelassen. Dann kam Demetra und hat mich vor die Wahl gestellt: Fabelreich für immer den Rücken kehren, in Edinburgh bleiben, mit meinem Sohn. Oder zu Damon zurückgehen, ohne ihn. Verbannung oder Gefängnis. Mein Kind verlieren oder meinen Mann." Ihre Stimme stockt. „Ich habe sie angefleht", flüstert sie heiser. „Ich habe geschrien, um mich geschlagen, bis sie mich festhalten mussten. Das letzte, was ich von Mortimer gesehen habe, war ein weinendes Baby in Demetras Armen. Er hat nach seiner Mutter geschrien, als sie ihn weggetragen haben." Ihre Finger krallen sich um den seitlichen Rand von Demetras Steinblock, bis sich die Knöchel weiß unter ihrer gespannten Haut abzeichnen. Sie stützt sich auf den Tisch, atmet tief ein und aus, sichtbar um Fassung ringend. „Ich habe kein Mitleid mit dieser Frau", presst sie hervor. „Es sind ihre eigenen Fehler, die sie auf ihr Sterbebett gebracht haben."
„Fehler? Demetras größter Fehler war, dir eine Wahl zu lassen!" Meine Stimme ist lauter und höher als beabsichtigt, aber ich kann es nicht verhindern. Margret war für mich immer eine bedauernswerte, fast tragische Figur. Die typische irregeführte Unschuld. Ich hatte wirklich viel Verständnis für sie, habe mit ihr und Mo gelitten. Aber diese Opfer-Story, ohne jedes bisschen Selbstkritik, nachdem sie vor weniger als vierundzwanzig Stunden die eigene Schwester ermordet hat, ertrage ich einfach nicht. „Sie hätte dir verbieten können, nach Fabelreich zurückzukehren, auch gegen deinen Willen! Du hättest ein Leben mit Mo geführt, ein gewöhnliches Leben weit weg von Damon. Es wäre das Beste für alle gewesen. Aber Demetra hat dir Wahlfreiheit gelassen, gegen ihr besseres Wissen. Und was hast du daraus gemacht? Du bist zu ihm zurück!"
Ich presse die Lippen zusammen. „Du hast recht", sage ich, selbst bemüht ruhig, auch wenn meine Stimme noch immer bebt. „Demetra hat Fehler gemacht. Sie hätte viel früher verhindern müssen, dass Damon solche Macht über euch gewinnt. Dass er dich von sich abhängig macht. Dass du Mo nicht sehen durftest, in all den Jahren, war ein Fehler. Dass sie dich aufgeben hat, war ein Fehler. Aber das alles ist nichts gegen deine Fehler. Es war deine freie Entscheidung bei ihm zu bleiben! Ohne deinen Sohn."
„Ich wollte Mortimer-"
„-mitnehmen? Damit er in einem Gefängnis aufwächst, mit seinem Monster von Vater? Wenn du das wirklich wolltest, bist du entweder blöd, blind oder genauso egoistisch wie Damon. Dir geht es nicht um Mos Bedürfnisse, nur um deine! Wenn es dir wirklich um ihn ginge, hättest du nicht die Frau umgebracht, die jahrelang seine Mutter war, damit du einem Narzissten das Ego streicheln konntest!" Ich halte inne, um Luft zu schnappen. „Eleanor ist gestorben, für seinen Schutz! Was hast du jemals für deinen Sohn getan?"
Margret sieht aus, als hätte ich ihr meine Faust in den Magen gerammt.
„Es waren deine Entscheidungen, die dich hier her geführt haben", sage ich. „Allein deine! Jede kleine böse Tat hat dich auf einen Weg geschubst, an dessen Ende der Mord an deiner Schwester steht! Wie tief muss man im Hass versinken, um das fertig zu bringen?" Ich starre sie an und ich weiß, dass sich die Fassungslosigkeit in meinem Blick abzeichnet. „Ich hoffe, du hast es genossen, sie zu töten. Ich hoffe, der Triumph war es dir wert. Denn, wenn Mo rausfindet, was du getan hast", ich schüttle den Kopf mit zusammengepressten Lippen, „dann werden du und dein Dämon von Meister lernen, dass die Hölle schon auf Erden existiert!"
„Ich bin seine Mutter!"
„Du bist gar nichts für ihn! Damon besitzt dich, mit Haut und Haar! Denkst du, Mo ist so dumm und bemerkt das nicht? Du hast dich schonmal gegen ihn entschieden." Kurz halte ich inne. „Sie nennen dich die Bleiche Herrin", fahre ich fort, bitter im Ton. „Aber Herrin von was? Den Marionetten an Damons Seite?"
„Was fällt dir ein?", zischt Margret. „Eleanor hätte-"
„Ich bin nicht Eleanor! Und ich bin auch nicht Demetra!" Meine Brust hebt und senkt sich rasch. Ich fühle das Blut in meinen Ohren rauschen, als die Wut über den Schock gewinnt. „Ich bin Lina Büchner! Priorin von Stormglen! Eleanors Erbin, ja, aber nicht Eleanor selbst." Margret glotzt mich an, mit aufgerissenen Augen. Der Schreck steht ihr ins Gesicht geschrieben. Es ist ein gewagter Schritt meinerseits, ich weiß ja nichtmal, ob Asteria Recht damit hat, dass ich ihre Erbin bin, und werde es vermutlich auch nie. Aber Margrets offenkundiger Schock ist es allemal wert. „Ich bin Gärtnerin und Schattenwächterin. Und vielleicht ist ja genau das der Punkt. Vielleicht muss ich mich nicht entscheiden. Vielleicht kann ich aggressiv sein und versöhnend. Wachsen lassen und zerstören. Vielleicht bin ich genau deswegen hier. Vielleicht auch nicht. Vielleicht habe ich nicht die Erfahrung für dieses Amt. Vielleicht scheitere ich. Aber ich verspreche dir: Solange ich Priorin bin, werde ich nicht zulassen, dass Damons Ideen sich hier einnisten. Du und dein Liebhaber, ihr setzt keinen Fuß mehr über die Schwelle dieses Hauses! Ich lasse Fabelreich nicht vergessen, wer Eleanors Mörder sind. Und wenn du denkst, niemand würde sie vermissen." Ich blinzle. „Sie wird schon jetzt vermisst."
Rasch wische ich mir über die Augen. Margret öffnet den Mund, aber ich schneide ihr das Wort ab. „Geh!" Mit einem Mal kann ich ihr ausdrucksloses Gesicht keine Minute länger ertragen. „Ich will dich nicht mehr sehen. Komm nicht auf die Idee, nochmal hier aufzukreuzen. Wenn du es tust, schmeiße ich dich persönlich raus. Und dann", ich hebe das Kinn, trotzig, „werden wir sehen, wer von uns mehr Schatten in sich hat."
***
Als ich von den Gewächshäusern zurückkomme, habe ich meine schwerste Aufgabe noch vor mir. Margret ist gegangen, aber Constanze wartet nach wie vor auf ihre Antwort.
Ich ignoriere sie und wende mich stattdessen an das versammelte Kolleg, hebe die Stimme: „Wächter von Stormglen! Damon Blackwell bietet euch einen Platz in seinen Reihen an. Der Preis ist Verrat am Kolleg und an mir, eurer Priorin. Wer wird ihn zahlen?"
Schweigen senkt sich über die Wiese. Mein Herz schlägt schneller, als ich die eisernen Mienen der Wächter durch das Halbdunkel sehe. Keiner rührt sich. Ich will mich gerade triumphierend zu Constanze umdrehen, als plötzlich ein Raunen durch die Kollegien geht. Die Menge teilt sich und lässt jemanden durch. Einen Mann, nein, einen jungen Mann.
„Ich", sagt Mortimer.
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Fabelblut
FantasyEigentlich sollte es nur eine Klassenfahrt nach Schottland werden - aber als Lina auf einem Friedhof in Edinburgh plötzlich von einem Geschöpf wie aus einem Fantasybuch angegriffen wird, ändert sich ihr Leben über Nacht. Ehe sie sich versieht, finde...