Was kein Auge je gesehen (2)

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„Nur über meine Leiche!" Eric verschränkt die Arme vor der Brust und der goldene Stoff seines Umhangs bauscht sich auf wie das Gefieder eines schimpfenden Vogels. „Ich glaube, du hast den Verstand verloren!"

Constanze wirft ihm einen warnenden Blick zu, aber ich seufze nur innerlich. Wie können erwachsene Menschen nur so ein Theater veranstalten?

„Eric." Ganz langsam dreht sich Eleanor zu ihm um, schaut ihm ins Gesicht. „Es gibt in deinem Kollegium jede Menge fähige Männer und Frauen." Ihre Stimme ist ruhig, aber eiskalt. „Wenn du das nächste Mal in der Öffentlichkeit so mit mir sprichst, mache ich einen von ihnen zum Alumni. Das ist deine letzte Warnung."

Ich feixe, als ich Erics angesäuerten Gesichtsausdruck sehe. Er faucht irgendetwas von Kritikfähigkeit, aber Eleanor hat sich schon wieder umgedreht.

„Man könnte solche Dinge auch mal unter vier Augen besprechen", murmele ich ihm zu, „muss ja nicht immer gerade in den unpassendsten Momenten sein."

Eric schnaubt. „Ist nicht so, dass sie uns eine Wahl gelassen hätte, oder? Vor einer Stunde erfahre ich mal so nebenbei, dass Nicolas zurückkommt. Mit den Rebellen. Für Verhandlungen. Das ist doch Wahnsinn!"

„Still jetzt!", zischt Eleanor von vorn. „Sie kommen." Ihr Blick ist über den Hof auf den Geteilten Wald gerichtet. Das schmiedeeiserne Tor steht weit offen wie in Erwartung von Gästen. Wir Alumni haben uns vor dem Eingangsportal postiert, Eleanor ein paar Meter vor uns. Es macht sicher Eindruck wie wir da so stehen, reglos in unseren langen bunten Umhängen mit gefalteten Händen und ernster Miene. Die Mächtigen des Kollegs, aufgestellt wie Schulkinder. Zweifelsohne hat Eleanor das beabsichtigt. Ein würdiger Empfang für ihren wichtigen Besuch.

Schon als ich zum ersten Mal von Nicolas Mission gehört habe, dachte ich mir, dass es etwas mit dem Widerstand zu tun haben musste. Mir war klar, dass Eleanor versuchen würde, sie für den Kampf gegen Blackwell zu gewinnen. Und einen Schattenwächter, der gleichzeitig ein Rebell ist, als Mittelsmann einzusetzen, war eine zu gute Gelegenheit, um sie verstreichen zu lassen.

Ich möchte, dass du dabei bist, wenn ich mit der Delegation der Rebellen spreche, hatte Eleanor mir vor weniger als einer Stunde gesagt.

Warum?

Weil ich nicht weiß, was sie wollen. Was ich ihnen geben muss. Du schon.

Bei Delegation hatte ich mit ein paar abtrünnigen Wächtern gerechnet, wie Nicolas, Vielleicht auch noch mit einigen Fabelwesen. Aber als die Frau aus dem Schatten der Bäume tritt, bin ich ziemlich überrascht.

Asteria ist allein, mit Ausnahme von Nicolas, der an ihrer Seite geht. Die beiden bilden ein seltsames Paar, als sie da so auf uns zuschreiten. Er, der Rebell in abgewetzter Wildlederjacke und Stiefeln, sie die uralte Elfenkönigin mit dem Gesicht einer griechischen Statue. Wie schon in jener Mondnacht zwischen den Ruinen des Theaters trägt Asteria einen dunklen Grünton, passend zu ihren Augen. Ihr langes Goldhaar ist hochgesteckt und am Kopf mit Efeu verflochten, sodass ihre spitzen Ohren noch deutlicher zum Vorschein kommen. Wieder trägt sie keine Krone und wieder stahlt sie die Hoheit so deutlich aus, dass Eric und Constanze an meiner Seite hörbar Luft holen.

„Ich hoffe, dir ist klar, was du tust", wispert Constanze, als Eleanor vortritt, doch sie bekommt keine Antwort.

Eleanor wartet nicht, bis ihre Gäste den ersten Schritt machen. Sobald sie das Portal erreicht haben, neigt sie den Kopf und sagt ein paar Sätze in einer fremden Sprache.

Ich verstehe kein Wort, aber Asterias ernste Miene hellt sich sofort auf und in ihren Augen erscheint ein fast kindlich neugieriges Glimmen.

Eric schnaubt, so leise, dass es nur Constanze und ich hören können. „Angeberin."

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