Kapitel 5.4

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~Liv~

"Gib mir die Schlüssel",sage ich ungeduldig und strecke meine Hand aus.
Gareth schüttelt mit dem Kopf.
"Vergiss es, du fährst auf keinen Fall!"sagt er streng und ich stöhne genervt auf.
"Dann fahr mich zum Friedhof!"
"Was?!"
"Fahr mich zum verdammten Friedhof!"
Ich brülle beinahe und Gareth hebt erstaunt die Augenbrauen.
"Schon gut!",sagt er beschwichtigend und kramt den Autoschlüssel aus seinem Rucksack.
"Sollten wir nicht erstmal...",versucht er es erneut, doch ich unterbreche ihn harsch.
"Friedhof. Jetzt."
"Alles klar, habs ja verstanden!"
Ich gehe voran zum Auto und nehme auf dem Beifahrersitz Platz.
Gareth setzt den Wagen in Bewegung und wirft mir immer Mal wieder einen verstohlenen Blick zu.
"Was hatte Sheila hier zu suchen?",fragt er nach einer Weile, in der ich nur stur aus dem Fenster geschaut habe.
Auch jetzt wende ich mich ihm nicht zu.
"Hat Eddie gesucht",antworte ich knapp.
"Wieso das denn?"
"Keine Ahnung",sage ich wahrheitsgemäß und mein Tonfall lässt keinen Zweifel daran, das die Unterhaltung für mich beendet ist.
Gareth scheint es zu verstehen, denn er schweigt.
Wir kommen vor dem gusseisernen Tor des Hawkins Friedhofs zum Stehen.
"Bin gleich zurück",sage ich und steige aus.
Ich gehe durch die Reihen der Gräber und bleibe vor Chrissys stehen.
Ich presse meine Lippen aufeinander.
Und dann passiert es.
Alles, was sich in den letzten Wochen an Wut und Frustration in mir angestaut hat, bricht aus mir heraus wie eine Explosion.
"Wie konntest du nur?!",brülle ich den Grabstein meiner besten Freundin an.
Wie eine Verrückte.
Doch ich muss all das loswerden.
Auch wenn sie es vermutlich nicht einmal hören kann.
Ich muss es herausschreien, sonst zerfrisst es mich.
"Ich habe dir vertraut, habe dich geliebt und du hattest nichts als Verachtung für mich übrig?!"
Ich schluchze laut auf und darauf folgt ein leises, hysterisches Lachen.
"Gott, wie sehr musst du mich gehasst haben, das du mich als Flittchen bezeichnen konntest, während du zeitgleich mit Billy gevögelt hast! Billy, verdammt nochmal!"
Meine Stimme bricht.
"Du hast mir immer und immer wieder vorgeworfen, das er der größte Fehler meines bisherigen Lebens gewesen sei! Hast dich über mich lustig gemacht, weil ich auf seine Spielchen reingefallen bin! Und dann vögelst du mit ihm?!"
Ich schüttle beinahe ungläubig den Kopf, raufe mir die Haare.
Ein lauter Schrei entfährt meiner Kehle und ein Schwarm Krähen, aufgeschreckt von dem plötzlichen, lauten Geräusch, bricht aus den Baumkronen heraus wie schwarzer Nebel.
"Und Jason! Wieso bist du bei ihm geblieben, obwohl du ja offenbar unglücklich warst?! Hat er von dir und Sheila gewusst und dich erpresst?! Ist es das gewesen, was du regeln wolltest?!"
Ich falle auf meine Knie und verberge mein Gesicht in meinen Händen.
Aus meinem Brüllen wird ein heiseres Flüstern.
"Wie konntest du ihm das antun?!",presse ich tränenerstickt hervor.
"Eddie hat dich geliebt und das er nun Gefühle für mich hat, zerfrisst ihn. Weil er ein schlechtes Gewissen dir gegenüber hat! Dir! Derjenigen, die ihn nur benutzt hat!"
Ich hebe meinen Blick.
"Ich erkenne dich nicht mehr wieder, Chrissy."
Schweigend betrachte ich die Inschrift des Grabsteins.

"Hier ruht Chrissy Cunningham.
Geliebte Tochter und Freundin."

Die Cunninghams hatten darauf bestanden, das auch auf ihrem Grabstein deutlich gemacht werden sollte, wieviel wir einander bedeutet hatten. Wir waren eine Familie.
Was ist davon jetzt noch übrig, außer einem riesigen Scherbenhaufen?
Nichts als Schmerz, Wut und Fassungslosigkeit.
Ich höre Schritte im Laub hinter mir.
"Hast du es gewusst?",frage ich tonlos und drehe langsam meinen Kopf.
Schwere schwarze Boots bleiben, mit ein wenig Abstand zu mir, stehen.
Ich hebe den Blick und sehe ihn an.
Er trägt eine schwarze Kapuze, darunter eine schwarze Cappie und das Bandana über Mund und Nase.
Ich hebe fragend meine Augenbrauen.
Er verschränkt die Arme hinter seinem Rücken und nickt.
"Es stimmt also. Alles was Sheila gesagt hat, ist wahr?"
Wieder nickt er.
Seltsamerweise empfinde ich keine Angst, wenn ich ihn ansehe.
Eigentlich empfinde ich nichts als Zerrissenheit.
"Hast du Chrissy deswegen getötet?",spreche ich aus, was mir plötzlich in den Sinn kommt.
Er rührt sich nicht. Steht da wie gemeißelt.
"Hast du sie getötet?!",fahre ich ihn an, doch er antwortet nicht.
Ich komme langsam und mit zittrigen Knien auf die Beine.
Mein Glieder sind schwer wie Blei.
"Wer bist du und warum tust du das alles?"
Mir kommen erneut die Tränen.
Natürlich erhalte ich keine Antwort.
Ich hole tief Luft und schließe für einen Moment die Augen. Eine Träne löst sich aus meinem Augenwinkel und rinnt meine Wange hinab.
"Okay, hier ist der Deal",sage ich mit fester Stimme und öffne meine Augen.
Er legt den Kopf schief.
"Du lässt Eddie in Ruhe. Und damit meine ich, dass du aufhören wirst, Beweise zu fingieren und der Polizei falsche Hinweise zu geben. Und du wirst aufhören, ihn zu bedrohen. Von jetzt an und für immer",ich räuspere mich, versuche das Zittern in meiner Stimme zu verbergen.
"Ich werde im Gegenzug tun, was auch immer du von mir verlangst."
Er hebt ein wenig den Kopf, sodass ich für einen Moment seine Augen unter dem Schirm der Cappie hervorblitzen sehe.
Dann nickt er langsam.
Ich atme erleichtert aus und gleichzeitig kehrt die Angst zurück. So heftig und allumfassend, das es mir schwer fällt, zu atmen.
"Ich habe eine Bitte",sage ich dann und versuche meine brennenden Lungen mit Luft zu füllen.
"Ich möchte mich von ihm verabschieden. Denn ich gehe davon aus, das eine deiner Bitten sein wird, das ich mich von ihm trenne?"
Erneutes Nicken.
"Gewährst du mir heute Nacht mit ihm? Bitte..."
Einen Moment lang rührt er sich nicht. Dann nickt er mit dem Kopf.
Ich erwidere die Geste mit bebenden Lippen.
"Danke",presse ich hervor.
Er deutet eine Verbeugung an und dreht sich um.
Plötzlich hält er inne und wirft einen Blick über seine Schulter.
Dann steckt er eine Hand in seine Jackentasche, holt etwa heraus und streckt einen Arm aus.
Er öffnet seine Faust und Chrissys Kette, gehalten von seinen Fingern, baumelt sacht vor und zurück.
"Ja, der Deal schließt auch den Mord an Chrissy ein. Du wirst Eddie nicht belasten.",sage ich und folge der Kette mit meinen Augen, als wäre sie ein Pendel.
Offenbar hat er sie sich aus meinem Zimmer geholt.
Wozu?
Hat er bereits geahnt, das er mich gebrochen hat?
Gewusst, das ich ihm einen Deal anbieten würde?
Um Eddie zu schützen?
Unmöglich.
Bis vor einer Stunde hatte ich nicht einmal in Erwägung gezogen, mit diesem Wahnsinnigen zu verhandeln.
Ich sehe meinen Peiniger an.
Er lässt die Hand, die die Kette umschließt, in seiner Jackentasche verschwinden und geht davon.
Ich sehe ihm nach und alles in mir schreit danach, zu fliehen.
Fort aus Hawkins.
Fort von ihm.
Mir ist klar, das der Deal einen hohen Tribut fordern wird.
Wie hoch er tatsächlich sein wird, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst.
"Zum Teufel, Liv, wer war das?!",reißt mich Gareths Stimme aus meinen dunklen Gedanken.

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