Kapitel 4.4

90 9 9
                                    

~Liv~

Eddie bringt den Van vor meinem Elternhaus zum Stehen.
Die gesamte Fahrt über haben wir geschwiegen.
Ich kann nicht aufhören zu weinen.
Die Tränen wollen einfach nicht versiegen.
Der Gedanke, gleich aus dem Van zu steigen und Eddie vorerst nicht wieder in die Arme schließen zu können, frisst mich innerlich auf.
Es tut weh.
Und ich bin wütend.
Wütend auf diesen Irren, dem wir eine solche Kontrolle über unser Leben gewähren.
Ich sehe zu Eddie.
Seine Hände umklammern das Lenkrad.
Seine Knöchel treten weiß hervor.
Eine Träne rinnt still seine Wange hinab.
Er leidet.
Wie ich leide.
Ihn so zu sehen bricht mir erneut das Herz.
Ich strecke meine Hand aus und lege sie auf Eddies.
Er verkrampft sich, weicht meinem Blick aus.
Seine Lippen beben.
"Ich bringe dich zur Tür",sagt er schnell und steigt aus dem Van.
Ich bleibe einen Moment allein zurück.
Aus dem Van zu steigen bedeutet, Eddie loszulassen.
Ich bin noch nicht bereit.
Vermutlich werde ich auch nie bereit dafür sein.
Langsam öffne ich die Beifahrertür und atme tief durch.
Meine Lunge brennt schmerzhaft.
Seit unserem Gespräch im Trailer fühle ich mich erschöpft und müde.
Ich bin so müde.
Müde vom Weinen.
Müde vom Schmerz, der unaufhörlich von meiner Brust in jede Faser meines Körpers ausstrahlt.
Mit wackligen Beinen steige ich aus dem Van.
Meine Füße berühren den Boden, doch es fühlt sich falsch an.
Alles fühlt sich falsch an.
Ich kann mich selbst nicht mehr spüren.
Meine Fingerspitzen sind taub.
Eddie hat bereits die Haustür erreicht.
Er hält den Blick gesenkt, die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben.
Im Haus nehme ich eine Bewegung wahr. Der Vorhang hinter einem der Fenster wird ein Stück zur Seite geschoben.
Ich erkenne das Gesicht meines Vaters.
Erneut steigen mir Tränen in die Augen.
Mein Vater ist da!
Es erleichtert mich ein wenig.
Ich habe ihn vermisst.
Und es bedeutet, das meine Mutter bereits in einem Flieger nach Sonst-wo sitzt.
Wenigstens etwas.
Ich könnte nicht die Kraft aufbringen, um mich mit Mum auseinanderzusetzen.
Selbst einen Fuß vor den anderen zu setzen fällt mir unglaublich schwer.
Ich erreiche die Haustür und bleibe vor Eddie stehen.
Eine Weile sagt niemand von uns ein Wort.
Keiner von uns ist bereit für den Abschied.
Dann geht die Haustür auf und ich erschrecke.
Mein Vater steht im Türrahmen und lächelt.
"Hallo Mücke",nennt er mich bei meinem Kosenamen, den er mir verpasst hat, als ich noch ein Baby war.
Als ich ihn einmal fragte, wieso er mich Mücke nennt, erwiderte er, das ich genauso nervig sei.
Dann hatte er gelacht und mich fest in den Arm genommen.
Die Beziehung zu meinem Vater ist eine völlig andere, als die, die ich zu meiner Mutter habe.
Mein Vater ist sanftmütig, freundlich und liebevoll.
All das, was meine Mutter nicht ist.
Und er ist verständnisvoll.
Weshalb er auch aufrichtig lächelnd Eddie eine Hand entgegenstreckt.
"Guten Tag, junger Mann. Ich bin Sam, Livs Vater. Und du bist...?"
Eddie räuspert sich verlegen und schüttelt unsicher Dads Hand.
"Edward Munson",antwortet er und ich wundere mich, das er seinen vollen Namen nennt.
Vermutlich liegt das daran, das mein Dad eine Autorität ausstrahlt, die die meisten Menschen dazu veranlasst, besonders höflich zu sein.
"Freut mich sehr",sagt mein Dad aufrichtig.
"Danke, das du mir meine Tochter zurückbringst",fügt er hinzu und zwinkert Eddie neckisch zu.
Ich presse meine Lippen aufeinander.
"Kein Problem, Sir. Ich hab sie ja auch entführt",sagt Eddie trocken.
Ich schmunzle.
"Hab's schon gehört. Meine Frau ist nicht begeistert von dir. Aber ihr zwei scheint ja nicht ohne einander zu können. Ich erinnere mich noch gut daran, wie das damals bei mir und Eva war...",plappert mein Vater drauf los.
"Dad...",unterbreche ich ihn sanft.
"Oh, entschuldigt bitte! Ich wollte euch auch gar nicht stören! Ich wollte nur den jungen Mann kennenlernen, wegen dem deine Mutter so schäumt",erwidert mein Dad entschuldigend.
Dann sieht er mich aufmunternd an.
"Lasst euch Zeit. Ich warte in der Küche, Mücke",sagt er dann und nickt Eddie lächelnd zu.
Eddie erwidert die Geste und wir sehen meinem Vater nach, der im Haus verschwindet.
Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss und die Kälte in mir kehrt zurück.
Sie war nie ganz weg, aber mein Vater hat sie für einen kurzen Augenblick gelindert.
"Dein Vater ist ja wahnsinnig nett",sagt Eddie verblüfft, ohne mich anzusehen.
"Ja, das ist er",stimme ich tonlos zu.
Wieder schweigen wir.
Dann macht Eddie einen Schritt auf mich zu, legt vorsichtig eine Hand an meine Taille und zieht mich behutsam an sich.
Mit der anderen streicht er mir eine Strähne meine Haares aus dem Gesicht, als ich zu ihm aufsehe.
"Ich vermisse dich jetzt schon",sagt er erstickt und ich presse meine bebenden Lippen aufeinander.
"Für wie lange?",frage ich, nachdem wir erneut eine Weile geschwiegen haben.
Eddie seufzt und zuckt dann kaum merklich mit den Schultern.
"Ich weiß es nicht...",erwidert er flüsternd.
"So lange, bis wir den Mistkerl haben",fügt er hinzu und Zorn schwingt in seiner Stimme mit.
"Wir haben doch nicht einmal eine Ahnung, wer es sein könnte",erwidere ich verzweifelt und lege meine Stirn an Eddies Kinn.
Er senkt seinen Kopf und presst seine Lippen auf meinen Scheitel.
Er antwortet nicht.
Was soll er auch sagen?
Es könnte Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern, bis wir herausfinden, wer der Maskierte ist.
Vielleicht erfahren wir es auch nie.
Dann wäre das hier ein Abschied für immer.
Ich schiebe diesen Gedanken schnell beiseite, zu sehr schmerzt er.
Ich schließe meine Augen und drücke mich enger an Eddie.
Er verstärkt seinen Griff um meine Taille, hält mich fest.
Ich hebe meinen Blick und sehe Eddie an.
Seine Augen sind gerötet und glänzen wässrig.
Ich kann den Schmerz in ihnen sehen.
"Ich liebe dich, Eddie",sage ich tränenerstickt und lege sanft meine Lippen auf seine.
Er erwidert den Kuss und seine Hände legen sich besitzergreifend um meinen Nacken.
Seine Finger vergraben sich in meinen Haaren.
Der Kuss schmeckt salzig.
Und bittersüß.
Widerwillig lösen wir uns voneinander und Eddie zieht mich in seine Arme.
Mein Kopf ruht an seiner Brust und ich kann sein Herz hören.
Es stolpert.
"Es wird Zeit",sagt Eddie leise und es durchzuckt mich wie die Stiche einer Nadel.
"Ich bin noch nicht so weit",erwidere ich und klammere mich an Eddie.
"Das wirst du auch nie sein. Genauso wenig wie ich",flüstert Eddie dicht an meinem Ohr.
"Geh ins Haus, Liebes. Versprich mir, das du dich nicht umdrehst. Sieh mir nicht nach, okay?"
Ich nicke und heiße Tränen laufen meine Wangen hinab.
"Ich liebe dich, Liv",sagt er, dann legt er eine Hand auf meinen Rücken und schiebt mich zur Tür.
Ich lasse es über mich ergehen.
Obwohl jede Faser meines Körpers sich dagegen wehren will.
Ich lege eine Hand auf den Türknauf und halte inne.
Eine Sekunde denke ich darüber nach, mich umzudrehen.
Doch ich tue es nicht
Stattdessen öffne ich die Tür und gehe hindurch.
Ich lasse sie schnell hinter mir ins Schloss fallen, breche augenblicklich in Tränen aus.
Ich presse mir schluchzend eine Hand an die Brust und Übelkeit überkommt mich.
Ich renne zum Gästebad, reiße die Tür auf und schaffe es gerade noch, den Toilettendeckel zu öffnen, bevor ich mich übergebe.
Das alles ist zu viel für mich.
Ich halte es nicht aus.
Es bringt mich um.
Mein Körper weiß nicht, wie er damit umgehen soll.
Mit diesem Schmerz, der auf meiner Seele lastet.
Den mein Körper nicht lindern kann.
"Mücke?",höre ich die besorgte Stimme meines Vaters in meinem Rücken.
"Was ist los?"
Er beugt sich über mich und streicht mir mein Haar in den Nacken.
"Bist du krank oder hast du gestern etwa zu viel getrunken, mh?"
Ich schüttle den Kopf, antworte nicht.
Stattdessen übergebe ich mich erneut.
Mein Vater hält mein Haar, streicht mir behutsam über den Rücken.
"Lass es raus, Kind",sagt er fürsorglich und seine Hand täschelt meine Schulter.
Es dauert eine Weile, bis mein Magen und ich uns beruhigt haben.
Ich lasse mich erschöpft auf meinen Hintern fallen und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen.
"Willst du mir erzählen, was los ist?",fragt mein Vater und ich schüttle den Kopf.
"Mh",macht Dad und seufzt.
"Wir müssen über deinen Streit mit deiner Mutter sprechen",sagt er.
Ich atme hörbar aus.
"Da gibt es nichts zu sagen. Sie hat gewonnen. Eddie und ich haben Schluss gemacht",erwidere ich.
Ich höre, wie mein Vater sich neben mir niederlässt.
"Also wart ihr zusammen",stellt mein Vater fest.
"Naja, ja...wir ehm...haben miteinander geschlafen und keine Ahnung, ich schätze, ich hätte mich nicht verlieben dürfen",schluchze ich.
Es tut gut, mit Jemandem darüber zu reden. Auch wenn ich die Wahrheit ein wenig verzerren muss.
"Hat er dir weh getan?",fragt mein Vater und ich schüttle den Kopf.
"Nein",antworte ich schnell,
"E-Es ist...kompliziert."
"Ich verstehe",sagt mein Vater und seufzt.
"Das ist Liebe immer, weißt du",erklärt er und seine ruhige Stimme verlangsamt meinen Puls.
Ich hebe den Kopf und sehe ihn an.
"Dad...",schluchze ich mit bebenden Lippen,
"Es tut so weh!"
Mein Vater schnalzt mitleidig mit der Zunge und verzieht traurig sein Gesicht.
Dann nimmt er mich fest in den Arm.
"Ich weiß, Mücke. Ich weiß..."

"Make him pay!"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt