Kapitel 3.8

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~Liv~

Letzte Nacht habe ich mich in den Schlaf geweint.
Es fühlt sich an, als würde meine Welt in sich zusammenfallen.
Wie ein Kartenhaus.
Es ist zu viel.
Ich bin übervoll mit Emotionen, die in mir um den Platz an der Oberfläche kämpfen und mich um den Verstand bringen.
Alles in mir schreit danach, nur für einen Moment all das zu vergessen, was ich in den letzten Tagen erfahren habe.
Ich will nur Luft holen.
Nur einen kurzen Augenblick.
Denn ich drohe zu ertrinken.
Und der Einzige, der noch meine Hand und damit mich über Wasser hält, ist Eddie.
Was, wenn der Stalker ihm etwas antut?
Was, wenn er ihn mir nimmt?
Allein bei dem Gedanken daran glaube ich am Kummer zu ersticken.
Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen bin.
Ich fühle mich wie vom Bus überfahren, seit der Wecker mich eben unsanft geweckt hat.
Ich blinzle gegen das, durch das Fenster hineinfallende, Sonnenlicht.
Ich blinzle erneut.
Was zum...?!
Ich bin sofort hellwach und richte mich ruckartig auf.
Die Sonne wirft einen Schatten durch das Fenster.
Er hat die Form von Gitterstäben.
Langsam drehe ich den Kopf und sehe zum Fenster.
Mir wird übel.
Es ist vergittert.
Meine Mutter hat mein Fenster vergittern lassen!
Ich springe aus dem Bett und renne die Treppe hinab.
Wütend reiße ich die Küchentür auf und treffe auf meine Mutter.
Sie gießt sich gerade eine Tasse Kaffee ein und hebt lächelnd den Kopf.
Das Lächeln erreicht nicht ihre Augen.
"Guten Morgen, Schätzchen",flötet sie und mir treibt es die Zornesröte in die Wangen.
"Du hast mein Fenster vergittern lassen?!",brülle ich und balle meine Hände zu Fäusten.
"Oh, hatte ich das gestern etwa nicht erwähnt? Ich sagte doch, du hast Hausarrest",sagt sie kühl.
"Drehst du jetzt völlig durch?!",brülle ich sie an und Tränen des Zorn sammeln sich in meinen Augen.
"Ich habe dich in der Schule krank gemeldet. Du wirst dieses Haus nicht verlassen, bis dein Vater zurück ist",sagt sie unbeeindruckt und mir weicht sämtliche Farbe aus dem Gesicht.
"Aber Mum! Die Halloweenparty!"
Ich habe bereits das Hellfire Treffen verpasst. Die Halloweenparty ist das Einzige, worauf ich mich wirklich gefreut habe! Weil ich mit Eddie hingehen wollte.
Mum grinst süffisant.
"Das hättest du dir vorher überlegen sollen."
Ich kann nichts weiter tun, als sie fassungslos anzustarren.
"Ich hasse dich",flüstere ich tränenerstickt und laufe aus der Küche und zurück in mein Zimmer.

Meine Augen brennen wie Feuer und Kopfschmerz hämmert unerbittlich gegen meine Schläfen.
Ich habe keinerlei Zeitgefühl.
Es könnten Sekunden, Minuten, Stunden oder sogar Tage vergangen sein.
Ich weiß es nicht.
Ich liege auf meinem Bett und starre ins Leere.
In mir ist keine Emotion.
Kein Gefühl.
Nur Leere.
Langsam, wie in Zeitlupe hebe ich den Kopf und sehe zur Zimmertür.
Ich will nicht mehr hier sein.
Ich will hier raus!
Wut prescht sich ihren Weg an die Oberfläche und übernimmt das Steuer.
Ich springe aus dem Bett und laufe zur Tür.
Ich drehe den Knauf und will sie aufreißen.
Doch sie bleibt verschlossen.
Die Wut verschwindet plötzlich und weicht völliger Resignation.
Meine Mutter hat mich eingeschlossen.
Schlimmer kann es nicht mehr werden.
Ich bin vollkommen hilflos.
Ich lasse mich an der Tür herab auf den Boden sinken.
Meine Hand umschließt noch immer den Knauf und ich lasse sie langsam sinken.
Eine Ewigkeit sitze ich so da.
Ein Geräusch lässt mich langsam den Kopf heben.
Es kommt vom Fenster.
Ich lege den Kopf schief.
Verziehe jedoch keine Miene.
Erneut ertönt das Geräusch.
Wie ein Kieselstein, der auf Glas trifft.
Ein Kieselstein, der auf Glas trifft!
Ich wiederhole den Gedanken in meinem Kopf noch ein weiteres Mal, ehe ich aus meiner Starre erwache.
Ein Kieselstein!
Ich springe auf und stolpere zum Fenster, reiße es auf.
Ich weiche einem weiteren Kieselstein aus.
Er prallt an einem der Gitterstäbe ab und ich blinzle erschrocken.
"Ups",höre ich die Stimme, die ich so schmerzlich vermisst habe.
"Eddie",hauche ich tränenerstickt und umschließe die Gitterstäbe mit meinem Händen.
"Rapunzel, lass dein Haar herunter!",ruft Eddie, gerade so laut, das seine Worte zu mir hoch dringen.
Ich lache.
Es tut so gut zu lachen.
Es ist, als würde eine riesige Last von meinen Schultern fallen.
Eddie grinst breit und hebt dann einen Finger, um mir zu suggerieren, das ich warten soll.
Er sieht sich suchend um, dann geht er auf die Veranda zu und verschwindet kurz aus meinem Blickfeld.
Dann sehe ich, wie er sich am Vordach hochzieht.
Er stöhnt leise und ich kichere hinter vorgehaltener Hand.
Mein Herz macht einen Satz.
Er klettert wirklich hier herauf, nur um mich zu sehen.
Wenn ich nicht schon längst in ihn verliebt wäre, wäre das hier der Moment, der mich schwach werden lassen würde.
Vorsichtig krabbelt Eddie über das Dach zu meinem Fenster und selbst dabei macht er eine gute Figur.
Nichts kann diesen Mann entstellen.
Er erreicht das Fenster und umschließt augenblicklich meine Hände mit seinen.
"Jesus Christ, Liebes! Ich hab mir Sorgen gemacht!",sagt er und ich drücke meine Stirn gegen die Gitterstäbe.
Eddie tut es mir gleich und Stirn an Stirn schweigen wir einen Moment.
Leise Tränen rinnen mir die Wangen hinab.
"Ich hab dich sehr vermisst",flüstere ich verlegen.
Eddie nimmt eine Hand von meiner und schiebt sie durch die Gitterstäbe, um mir sanft über die Wange zu streichen.
Er fängt eine Träne auf und seufzt leise.
"Ich habe dich auch sehr vermisst",antwortet er zögerlich.
Ich schließe meine Augen.
"Sie hat mich eingesperrt. Ich komme hier nicht raus, Eddie. Die Tür ist verschlossen",erkläre ich und schluchze leise.
"Das habe ich mir schon gedacht. Darum habe ich Verstärkung mitgebracht",sagt er und lächelt aufmunternd.
Ich runzle fragend die Stirn.
"Dustin und Gareth warten unten. Wir holen dich hier raus",erklärt Eddie und ich schnappe nach Luft. Dann schluchze ich erneut laut auf.
"Wirf dich in Schale, Prinzessin. Zeit auf eine Halloweenparty zu gehen!",ruft Eddie dann und strahlt mich an.
"Heute ist Halloween?!",frage ich verblüfft und Eddie legt seine Stirn in Falten.
"Ja, Liebes. Heute ist Halloween. Ist dir das nicht aufgefallen?!",fragt er und breitet seine Arme aus.
Erst jetzt sehe ich, das Eddie verkleidet ist. Ein Lächeln umspielt meine Lippen.
"Eddie Van Halen"sage ich anerkennend und beiße mir auf die Unterlippe.
Eddie grinst und zwinkert mir zu.
Ich löse meinen Blick von ihm und plötzlich dringen die Geräusche, das Geplapper der hohen Stimmen, zu mir herauf und ich sehe die vielen verkleideten Kinder die Straße entlang laufen.
"Ich bin seit zwei Tagen hier drin?!",entfährt es mir erschrocken und Eddie legt den Kopf schief.
"Ja",sagt er knapp und in seiner Stimme schwingt tiefes Bedauern mit.
Dann hebt er mit Daumen und Zeigefinger mein Kinn dicht an den Gitterstäben an und lächelt.
"Komm schon, Liebes. Zieh dich um und wenn du so weit bist, verziehen wir uns von hier, okay?"
Ich nicke und presse meine bebenden Lippen aufeinander.
"Okay."

"Make him pay!"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt