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SAWYER

Wie James mich überzeugt hat, herzukommen, weiß ich nicht. Nach endlosen Gesprächen und Diskussionen habe ich vermutlich irgendwann zwischen »Du hast keine andere Wahl« und »...wenn du das nicht tust, sind wir erledigt«, aufgegeben.
Mit ihm zu diskutieren bringt nichts. Immerhin habe ich selbst eingesehen, dass er recht hat. Das ist vermutlich unsere einzige und beste Chance, die wir bekommen werden. Schon seit Monaten sind wir nicht mehr so nah dran gewesen wie jetzt. Wie hier.
Dennoch hadere ich mit mir. Meine Finger graben sich fest ins Lederlenkrad des Wagens, den ich die Straße hinauf geparkt habe. Unter ein paar Bäumen, die am Straßenrand wachsen blicke ich durch die Frontscheibe zum Neonschild des Nachtclubs, in dessen Hinterhof sich eine alte Halle befindet, in der die Fights stattfinden. Das Viertel kenne ich wie meine Westentasche, und ich wünschte mir wäre das hier alles fremd und nicht so bekannt. Alles an diesem Ort triggert mich und kramt Erinnerungen aus den tiefsten Ecken meines Gehirns, die ich vor Jahren verdrängt habe. Meine halbe Jugend habe ich hier verbracht, trotzdem läuft mir eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken, wenn ich an die Dinge denke, die hier passiert sind. Damals, nach einem gewissen Ereignis, habe ich mir geschworen nie zurückzukehren. Nie auch nur einen Fuß in das Viertel zu setzen, das ich einst mein Zuhause nannte. Zu tief waren die Wunden, die es in meiner Seele hinterlassen hatte. Westminster hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Hier lauern meine Dämonen an jeder Hausecke, an jeder Wand und hinter jeder Scheibe. Ich kann ihnen nicht entfliehen, egal wie sehr ich es versuche. Es ist schlichtweg nicht möglich.

Schluckend umschließe ich das Lenkrad fester und starre wie in Trance auf das grelle Licht des Clubs. Einige Leute tummeln sich davor, die meisten vermutlich Partygäste, die nichts mit dem Boxen zu tun haben. Auf den ersten Blick mag dies ein null acht fünfzehn Nachtclub sein, erst auf den zweiten offenbaren sich all die schmutzigen Details, die die hohen Mauern versuchen zu verstecken.
Mein Herz zieht unangenehm in meiner Brust und lässt mich nach Luft schnappen, als wäre ich kurzatmig. Meine Beine fühlen sich an wie zwei Betonklötze, die mir nicht mehr gehorchen. Genug Überwindung auszusteigen, muss ich noch aufbringen.
Vielleicht hätte ich doch den Schnaps annehmen sollen, den James mir vorhin angeboten hat. Er saß mit seiner blöden Flasche Scotch Whisky auf dem Sofa in seinem Büro und blätterte einige Unterlagen vor dem Kamin durch. Er könnte mich unmöglich an diesen Ort begleiten. Jeder wüsste sofort, was wir vorhätten, und das würde alles ruinieren. Der Plan muss geheim bleiben, nur so kommen wir an die Infos, die wir brauchen. Langsam läuft uns die Zeit davon. Sergio wird nicht ewig eingesperrt sein. Sobald der Arsch wieder freien Boden unter den Füßen hat, wird er zu einem Schlag ausholen und versuchen, seine Macht zurückzuerlangen. Bis dahin sollten wir bestens gegen alle Eventualitäten gewappnet sein.
Einstig dieser Gedanke lässt mich die Tür öffnen und aussteigen. Mein klares Ziel für heute - Infos beschaffen, egal wie, egal was.
Manchmal sind es die unbedeutendsten und kleinsten Hinweise, die einen ans Ziel führen.

Zielstrebig halte ich auf den Club zu und versuche so locker wie möglich dabei auszusehen. Die Türsteher dürfen nichts wittern, sonst habe ich schlechte Karten. Ich schiebe meine Fäuste in die Taschen meiner Jacke, spiele in der einen Hand mit dem Autoschlüssel und versuche nicht an mein Messer zu denken, welches ich im Wagen zurücklassen musste. Fuck, ich bereue es bereits jetzt.
»Mann da wird mir glatt der Schwanz steif. Hab ich Halluzinationen oder ist das wirklich der große Sawyer Young?«, lacht einer der Türsteher, dessen Stimme mir sofort bekannt vorkommt. Ich zwinge mir ein grinsen auf, schlage bei ihm ein und klopfe meinem alten Kumpel auf die Schultern. »Mykel, Schön dich wiederzusehen.«
»Gleichfalls mein alter Freund. Was verschafft uns die Ehre?«, fragt er und lacht erfreut. Mykel und ich kennen uns seit ich vierzehn war, aber haben uns die letzten Jahre nicht oft zu Gesicht bekommen. Er war schon damals Türsteher am Club. Mit ihm zusammen habe ich so einige Menschen aus den vier Wänden des Nachtclubs geschmissen.
»Hab Heimweh bekommen«, scherze ich und lehne mich neben dem inzwischen grauhaarigen gegen die dreckige Hauswand. »Alles gut? Läuft das Geschäft?«, erkundige ich mich. Mykel nickt. Er hängt es nicht an die große Glocke, dass er der Besitzer ist, steht jeden Abend an der Tür während er so gut, als wäre er nur ein Angestellter. Er hat das Geschehen um seinen Besitz gern im Blick, wer kann ihm das verübeln. In der Gegend ist es vermutlich besser so. Westminster ist alles andere als sicher. Seit mehreren Jahren ist es der Stadtteil mit der höchsten Verbrechensrate ganz Londons, was beim Anblick der Gegend nicht schwer zu glauben ist. Einige Ecken -nicht alle- sind heruntergekommen und zwielichtig. Die Menschen hier sind allen Angriffen gewappnet. Hier herrschen Gangs und kleine Gruppierungen. Den Albanern gehören gute Achtzig Prozent, den Rest teilen sich ein paar Banden. Sie alle arbeiten in gewisser Weise für uns.
»Dann wird sich sicher freuen das heute ein paar Fights stattfinden«, lacht Mykel dreckig. »Wer ist denn im Haus?«, frage ich unwissend nach. Es gibt keine angekündigten Kämpfer. Der der da ist, ist da.
»So ein paar Frischlinge, von denen solltest du die Finger lassen. Aber auch ein paar erfahrene. Ist heute mein Glückstag und du machst dein Comeback in meinem Schuppen?«
»Ist es.«
»Oh Sawyer du machst einen alten Mann gerade sehr glücklich. Vic!«, brüllt er durch die Eingangstür ins Innere. Aus der Dunkelheit erscheint ein Mann, ein Kopf kleiner als ich, mit dicker Goldkette, altem Hemd und Jeans. »Ja?«, will er wissen und schenkt mir vorerst keine Aufmerksamkeit.
»Victor. Kurbel die Wetten ein bisschen an und sag ihnen, dass Sawyer im Haus ist. Er kämpft später«, weist Mykel ihn an und der Typ wirft mir einen überraschten Blick zu, als würde er nun wissen, wer da vor ihm steht. Ich nicke ihm zu, er erwidert es, bevor er aufgeregt im tiefen des Gebäudes verschwindet.
Mir entflieht ein Seufzen. »Naja, dann geh ich mich mal vorbereiten. Schaust du später zu?«, frage ich den grauhaarigen, der begeistert nickt und ein paar Gäste rein nickt. Vermutlich nur für die Party.
Mykel klopft mir auf die Schulter, wünscht mir viel Spaß bevor ich ins Innere des Nachtclubs eintauche und die bunten Lichter sich in meine Netzhaut brennen.

Kings of London | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt