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SAWYER

Am nächsten Morgen, weit vor Sonnenaufgang, ist es Jane, die diesmal draußen an der Feuerstelle sitzt. Ich wollte mir eigentlich nur ein Glas Wasser aus der Küche holen, als sie mir auffiel. Nun stehe ich wie ein Idiot hinter der Scheibe und beobachte sie bereits eine ganze Weile. Wie viel Zeit vergangen ist, weiß ich nicht. Viel zu viel, um hier nur blöd herumzustehen und sie anzugaffen. Sie sitzt mit dem Rücken zum Haus und dem Gesicht zum Meer, mit einer Decke um ihren Schultern und offenen Haaren, die im Wind wehen. Ich sehe keinen Rauch von einem Feuer, dass sie angezündet haben könnte. Es muss kalt da draußen sein. Grübelnd senke ich meine Augen auf die klare Flüssigkeit in meinen Händen. Das Wasser im vollen Glas sprudelt hörbar. Kleine Tropfen treffen meinen tätowierten Handrücken und verursachen ein prickeln in mir. Meine Füße sind wie festgewachsen. Ich kann mich nicht dazu ringen, zurück ins Zimmer zu gehen und weiter zu schlafen. Vermutlich kann ich das ohnehin nicht. Stattdessen habe ich das Verlangen, zu ihr zu gehen und mich neben sie zu setzen, obwohl ich das nicht sollte. Seit dem Sex haben wir keinen Ton mehr miteinander gewechselt. Die Stimmung im Haus ist noch immer angespannt und das, obwohl James mehrmals versucht hat, die Situation aufzulösen. Ich komme nicht um ein Gespräch herum, selbst wenn ich das nicht will. Ich hasse es, über die Dinge zu sprechen, die in mir vorgehen. Erst recht nicht mit einer Frau. Jane hingegen, versucht immer wieder es aus mir heraus zu locken. Ihre Mühen sind kläglich gescheitert. Trotzdem zwingt mich mein Herz genau in diesem Moment, zu ihr zu gehen. Ich exe das Glas aus, schiebe es auf die Kochinsel neben mir und taste nach der Packung Kippen, die ich zuvor in meine Hosentasche gesteckt hatte. Rauchen wollte ich ohnehin. Wieso also nicht jetzt?

Ich brauche nicht lang durch den Garten bis ich bei der Sitzecke angelangt bin und wie ein Trottel neben ihr zum Stehen komme. Sie schenkt mir keinerlei Beachtung. Auch nicht, als ich mich räuspere. Stattdessen gilt ihr Blick einstig dem Meer und den Wellen, die auf den Strand zu rauschen. Ich sinke links neben sie auf die Polster, zücke eine Zigarette aus der zerdrückten Pappschachtel und klemme sie mir zwischen die Lippen. »Kann ich eine haben?«, fragt sie mich mit dünner Stimme. Kopfschüttelnd öffne ich mein silbernes Feuerzeug. »Vergiss es.«
Sie stößt ein seufzen aus, als ich den kleinen Stängel zum brennen bringe und einen tiefen Zug nehme. Das Nikotin beruhigt mich.
»Was willst du hier?«, fragt sie, immer noch ohne mir einen Blick zu schenken. Sie ist wie hypnotisiert von der Aussicht und der aufgehenden Sonne. »Rauchen«, antworte ich gepresst. »Und du?«
»Aussicht genießen«, sind ihre knappen Worte. Um fünf Uhr morgens? Wir beide lügen also. Super. Ich spreche sie nicht darauf an.

Der kühle Wind streift meine nackten Schultern und verursacht Gänsehaut auf meinem Körper. Für einen Sommermorgen ist es recht kalt auf Sizilien. Kälter als gewöhnlich. Ob dies am Sturm liegt, der vor ein paar Tagen über die Insel gefegt ist?
»Ist dir nicht ... kalt?«, möchte sie mit angezogenen Knien wissen und wagt es, mich zum ersten Mal an diesem Morgen anzusehen. Ich schiebe mir die Zigarette erneut zwischen die Lippen, schüttle den Kopf lediglich und puste den Rauch aus, der sich in meinen Lungen gesammelt hat. »Dir?«
»Was soll der Smalltalk, Sawyer?«, seufzt sie restlos verwirrt und zieht ihre Augenbrauen zusammen. »Du hast damit angefangen«, erinnere ich sie und schnipse die Asche beiseite. Sie fliegt mit dem Wind fort. Wieder ein trauriger Laut, der ihrer Kehle entweicht. »Wieso bist du wirklich hier? Um mir unter die Nase zu reiben, dass ich nur eine geldgeile Hure bin?«

Ich stutze und mustere sie ungläubig von der Seite. »Seit wann nimmst du dir zu Herzen, was ich sage?«
Lippenbeißend schaut sie weg. Schnaubend blicke ich auf meine Hände hinab. »Lieg ich da denn so falsch? Du brauchst Geld, wir haben Geld. Du lässt dich von uns ficken für Geld. Ist das nicht der Inbegriff einer Hure?«
Wieder keine Antwort.
»Ist halt nunmal so. Außerdem muss das nichts schlechtes sein.«
»Ach ja?«
Ich nicke. »Wir haben unseren Spaß und du mehr auf deinem Konto. Ist doch fair.«
»Und wie viel werdet ihr mir zahlen, damit ich abtreibe?«
Ihre Worte lassen mich innehalten. So direkt spricht sie kaum über Dinge. »Weißt du«, beginne ich und unterbreche meinen Satz, um erneut an den glühenden Stängel zu ziehen, »jemand wie James oder ich zu sein ist gar nicht so einfach. DNA von einem von uns zu besitzen, noch weniger. Das bringt nicht nur eine Menge an grausiger Leute auf die Idee, es gegen uns zu verwenden, sondern auch diejenige, die für es sorgt.«
Und kaum haben diese Worte meinen Mund verlassen, merke ich erst, wie bescheuert das klingt.
»Ich würde nie-«
»Das war nicht gegen dich gerichtet, sondern für die Allgemeinheit«, unterbreche ich sie mitten im Satz, bevor sie auf dumme Gedanken kommt. Die Wahrheit ist doch, jede Schlampe da draußen mit einem Kind, ganz egal von James oder mir, könnte unsere Geschäfte zerstören und uns auf Millionen Unterhalt verklagen. Ganz zu schweigen von dem Ruf, den wir dann hätten. Manchmal ist es einfacher, einsam zu sterben, ohne einen Haufen Menschen zu hinterlassen, denen man etwas bedeutet hat. Zumindest sah ich das früher so. Jetzt, während ich hier sitze und sehe, wie Jane ihren Kopf in ihre Knie drückt und ihr die Haare ins Gesicht fallen, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich meinen eigenen Worten noch trauen kann.

Kings of London | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt