Hilflos

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An ganz schlimmen Tagen konnte ich mich selbst nicht überzeugen, dass ich einen Wert für diese Welt hätte

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An ganz schlimmen Tagen konnte ich mich selbst nicht überzeugen, dass ich einen Wert für diese Welt hätte. An diesen Tagen fragte ich mich, ob die anderen nicht besser ohne mich dran wären. Ich war überzeugt, dass es keinen Unterschied machte, ob ich noch da war oder nicht.

Die Welt hätte sich mit oder ohne mich weitergedreht und es wäre wahrscheinlich ein Tag wie jeder andere gewesen.

Wir selbst bestimmten, was für einen Wert wir unserem Leben gaben, das war mir klar.

Aber wenn man in sich selbst keinen Wert sah, wie konnte man dann überhaupt seinem Leben einen Wert geben?

Niemand sagte zu mir ,,Hey, ich brauche dich" oder ,,Du bist mir wichtig." Vielleicht setzen viele einfach voraus, dass man das wusste. Vielleicht gingen die meisten einfach davon aus, dass keine Bestätigung nötig war, weil man selbst genügend Selbstwertgefühl besaß. Doch das hatte ich nicht. Ich hätte so dringend jemanden gebraucht, der mir versichert hätte, dass ich gut war. Dass ich gebraucht werden würde und dass ich einen Mehrwert für die Menschen um mich herum hätte.

Ich kam mir ab und zu vor wie Luft. Jeder redete auf mich ein, doch niemand ließ mich sprechen. Keiner wollte sich anhören, was ich sagen würde, wenn ich den Mut gehabt hätte. Alle nahmen es für selbstverständlich, dass ich stets ein offenes Ohr und eine Schulter zum Anlehnen parat hatte. Niemand tat dasselbe für mich und daraus zog ich die Konsequenz, dass ich es nicht wert war, dass es jemand so für mich gemacht hätte.

Eigentlich war das, was ich am meisten wollte eine feste Umarmung. Eine, die mir versichert hätte, dass selbst alles okay wäre, wenn die Welt um mich herum zusammenbrach. Dass ich liebenswert war, auch wenn ich nicht all die Dinge schaffte, die ich mir vornahm.

Ich wünschte mir jemanden, der mich verstand. Diese Person müsste mir nicht alle meine Fragen beantworten. Aber es sollte jemand sein, der mir zuhörte und meine Gefühle ernst nahm. Jemand der mich an erster Stelle setzte und dem ich voll und ganz vertrauen konnte. Jemand für den ich besonders war.

***

Als ich die Klassenarbeit in der ersten Stunde erblickte, wusste ich schon, dass ich diese nicht bestehen würde. Ich war einfach viel zu dumm, um diese wahrscheinlich gar nicht so komplizierten mathematischen Formeln zu bergreifen und hatte nicht den blassesten Schimmer, wie ich diese Aufgaben angehen sollte. Ich schrieb einfach etwas hin, in der Hoffnung, dass es vielleicht doch richtig war. Selina war vor einigen Tagen mit mir alles durchgegangen und dennoch fühlte ich mich jetzt ohne sie völlig aufgeschmissen. Ich wollte einfach nur, dass es vorbei war.

Ich versuchte mich wenigstens zu konzentrieren, doch es funktionierte nicht. Die Stimmen meldeten sich bereits und lachten mich höhnisch aus, weil ich überfordert war.

Versuch es erst gar nicht, du wirst sowieso kläglich scheitern!

Andere können das auch, warum schaffst du das nicht?!

Wenn du jetzt schon verzweifelt bist, wie wird es dann erst sein, wenn du mal in der Uni bist oder einen Job hast?

Warum hast du so wenig Grips in deinem Gehirn?!

Das kommt davon, wenn man lieber heulend im Bett liegt, anstatt zu lernen!

Das Ticken der Uhr an der Wand machte es nicht unbedingt besser. Auch zu hören, wie die anderen auf ihr Papier kritzelten, half mir nicht unbedingt. Ruhig zu atmen, half auch nicht, weil ich viel zu angespannt war. Der strenge Blick unseres Lehrers ließ mein Herz ängstlich schneller klopfen.

Warum mussten wir uns so etwas antun?

Warum entschied eine Doppelstunde darüber, ob wir klug oder zu doof waren?

Der Wunsch mich zurück in mein Bett zu verkriechen, war unglaublich groß. Doch leider konnte man die Welt nicht einfach so ausblenden. Man musste wohl oder übel diesen Leistungsdruck über sich ergehen lassen. Wenn man keinen Abschluss hatte, konnte man das Ganze sowieso vergessen. Mir blieb also nicht anderes übrig, als diese Arbeit über mich ergehen zu lassen. Manche Fragen übersprang ich komplett, da ich wirklich keine Ahnung hatte, wie ich diese bearbeiten musste. Mein Gehirn war zu müde und ausgelaugt, um richtig zu denken.

Du musst nur positiv denken und an dich selbst glauben, hörte ich die Stimmen meiner Eltern in meinen Gedanken.

Aber wie sollte das gehen, wenn man direkt von Anfang an schon überzeugt war, dass man die Aufgaben, die an einen gestellt wurden, nicht bewältigen konnte?

Nachdem ich die Arbeit mehr oder weniger bearbeitet hatte, gab ich sie vorne am Pult ab und ging zu den Toiletten. Dort schloss ich mich in eine der Kabinen ein und brach in Tränen aus.

Natürlich wusste ich, dass ich keinen Ärger bekommen würde, wenn ich eine schlechte Note mit nach Hause brachte. Meine Eltern waren in dieser Hinsicht überhaupt nicht streng. Sie hätten mich umarmt, mir gut zugeredet und gemeint ,,Die nächste Arbeit wird besser.'' Dennoch fühlte es sich so an, als hätte ich sie mal wieder enttäuscht, weil ich es einfach nicht konnte. Sie sollten sich keine Sorgen um ihre Tochter machen, das wäre nur verschwendete Zeit.

Wenn du erst einmal nicht mehr in der Schule bist, wird es besser werden, versuchte ich mir selbst einzureden. Doch ich merkte schnell, dass dies nicht der Fall sein würde. Es würden noch mehr Dinge auf mich zukommen. Wenn ich mal alleine wohnen würde, müsste ich mich selbst um den Haushalt kümmern und einkaufen gehen. Ich müsste für mich kochen und mich selbst versorgen. Es würde mehr Verantwortung auf mich zukommen, was an sich eigentlich schön sein müsste. Jedoch war es das nicht für mich. Es würde bedeuten, dass ich sehr viel mehr Energie aufwenden musste, die ich einfach nicht hatte.

Mein Gesicht war total verheult und ich war irgendwie sehr wütend auf mich selbst.

Warum musste ich so emotional sein?

Durch Tränen würden meine Probleme auch nicht weggehen. Aber es war nunmal das Einzige, was ich in meiner Hilflosigkeit kannte. So traurig es auch war.

Wenigstens war ich allein und niemand sonst würde registrieren, dass mit mir etwas nicht stimmte. Tief durchatmend wischte ich mir mit Klopapier übers Gesicht und rieb damit über meine Augen.

Band 4 der Living Reihe - Living my best life ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt