Nicks Sicht:
Man verstand es anfangs einfach nicht, wieso jemand sich selbstverletzte. Meistens ging man ja immer von seinem eigenen Verhalten und Gefühlen aus und wenn man eben so etwas selbst nicht tat, war es umso schwerer, zu begreifen, warum die andere Person es tat.
Und irgendwie war da auch Wut, weil es gegenüber einem selbst mehr als unfair war, dass man sich selbst so schlecht behandelte. Aber selbst, wenn man das Ganze nicht so richtig verstand.
Man musste die andere Person mit ihren Emotionen ernst nehmen. Sie musste wissen, dass sie immer zu einem kommen konnte, wenn sie Hilfe brauchen sollte. Genau das hatte ich bereits durch meine Tante gelernt.
Aber es war nochmal eine ganz andere Nummer, wenn man erfuhr, dass sich die eigene Freundin ritzte. Ich wollte Ashley helfen, doch ich wusste nicht genau wie. Wenn sie Hilfe gewollt hätte, hätte sie es nicht vor sich behalten und schon längst mit jemandem, dem sie vertraute, darüber gesprochen. Aber selbst der beste Psychotherapeut konnte einem am Ende nicht helfen. Es lag an einem selbst, ob man Veränderung zulassen wollte und würde.
***
Mich hatte es sehr beruhigt, dass Ashley mir versprochen hatte, dass sie probieren würde, aufzuhören, sich selbst zu verletzen. Seit unserem Tag am Strand war ich aufmerksamer, schrieb ihr mehr Textnachrichten als zuvor und rief sie häufiger an, weil ich mir sicher sein wollte, dass es ihr gut ging. Wir trafen uns öfters und ich war am ruhigsten, wenn ich sie in meinen Armen halten konnte.
Ein Teil von mir war sauer auf mich, dass ich vor ihrer Beichte nicht gemerkt hatte, dass sie nicht gerade kleine Probleme hatte. Sie hatte mich so gut mit ihrem schönen Lächeln getäuscht und so ihre innere Dunkelheit vor mir versteckt.
Heute wollte ich zumindest kurz ausblenden, dass etwas mit meiner Freundin nicht in Ordnung war. Ich hatte heute ein Date für uns geplant, auf das ich mich mehr als freute. Ich wünschte mir, dass sie es genauso sehr genießen würde wie ich.
,,Wie geht es dir heute? Bitte, sei ehrlich'', fragte ich Ashley, als ich sie bei ihr zuhause abholte.
,,Mir geht es gut. Ich freue mich, mit dir Zeit zu verbringen. Was genau werden wir denn machen?''
,,Lass dich überraschen.''
Wir fuhren los und ich war mehr gespannt, was sie zu dem Programm sagen würde, das ich für uns ausgedacht hatte.
,,Rollschulaufen? Hast du schon mal so etwas gemacht?'', fragte mich meine Freundin, als die das Schild vor dem Zielort sah.
,,Nein, aber es gibt immer ein erstes Mal. Was ist mit dir? Hast du schon mal so etwas gemacht?''
Ich schüttelte den Kopf.
,,Dann würde es umso lustiger.''
Es war schnell klar, dass wir nicht besonders gut darin waren. Aber das machte nichts. Immerhin machten wir das hier zum allerersten Mal. Ich hielt die meiste Zeit über ihre Hand, wir fuhren erst einmal langsam und dann etwas schneller. Und natürlich passierte es, dass wir hin und wieder auch stürzten, doch wir lachten darüber. So etwas gehörte dazu und ich war sogar mehr als glücklich darüber, dass Ashley mir ein echtes Lachen schenkte, von dem ich mir sicher war, dass es nicht gespielt war.
Es war kaum zu glauben, wie sehr ich dieses Mädchen liebte. Am liebsten wäre mir, dass sie immer so gut drauf wäre. Doch ich wusste, dass es nicht der Fall war. Sie vor vier Wochen weinend zu sehen, nur weil mir ihre Narben aufgefallen waren, hatte mir das Herz gebrochen. Ich würde alles dafür tun, wenn es eine Möglichkeit gäbe, dass ihre eigenen Gedanken nicht mehr so dunkel waren und sie sich selbst etwas mehr liebte. Die gab es aber nicht.
Also genoss ich es, dass das hier einer ihrer guten Tage zu sein schien. Ich prägte mir alles ein. Die Discokugel an der Decke, die ich etwas zu viel fand aber dennoch hierher passte. Den Holzboden, auf dem wir uns fortbewegten. Die Popmusik im Hintergrund, die für meinen Geschmack etwas viel zu schnulzig war. Ashleys warme Hand auf meiner, die mich unter Strom setzte. Ihre Begeisterung, die sie mir sehr deutlich mit ihren Worten und ihrer Körpersprache mitteilte. Von mir aus sollte es immer so bleiben. Doch das ging nicht. Dieser Augenblick würde wohl oder übel vorbeigehen und daran konnte ich nichts ändern.
Wir holten uns anschließend ein Eis und ließen den Abend bei mir zuhause ausklingen. Das hieß, dass wir auf meinem Bett lagen und ich konnte nur daran denken, wie sehr ich ihr gerne das Gefühl geben wollte, dass ich sie liebte. Selbst ihre Narben schreckten mich nicht ab.
***
,,Das war ein wirklich schöner Tag. Vielen Dank, Nick Cole.''
Ashley zog mich in eine Umarmung und ich drückte sie ganz fest an meinen Körper. Ich schloss kurz die Augen und ließ diese Berührung auf mich wirken. Ich wollte so viel mehr, aber ich wusste, dass dies nicht möglich war. Ashley war noch nicht bereit dazu und das musste ich akzeptieren.
,,Ist alles okay, Nick?''
Ashley registrierte natürlich, dass ich etwas auf Abstand zu ihr ging. Eine andere Alternative gab es da leider einfach nicht. Ich musste dafür sorgen, dass ich mich in ihrer Gegenwart noch im Griff hatte.
,,Klar warum nicht?''
,,Du siehst mir irgendwie danach aus, als würdest du mehr wollen, als nur mich zu umarmen'', entgegnete sie und sah mich abwartend an.
,,Nein, das stimmt nicht. Ich will dich wirklich nur umarmen und nicht ... '' Mitten im Satz unterbrach ich mich selbst. Es hatte keinen Sinn, dass ich sie anlog. ,,Ach verfluchter Mist. Na gut, du hast recht. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich gerade nicht mit dir schlafen wollen würde, okay? Ich kann seit Wochen an nichts anderes mehr denken'', gab ich dann doch ihr gegenüber zu.
Dabei hoffte ich, dass meine Worten keinen Durck in ihr auslösten. Sie sollte mit mir schlafen, wenn sie bereit dazu war und es auch so sehr wollte wie ich.
,,Ich auch nicht.''
Ich wusste gar nicht so recht, was ich auf Ashleys Worte erwidern sollte. Und ich rechnete absolut nicht damit, dass sie sich auf meine Oberschenkel setzte.
Was genau hatte sie vor?
,,Darf ich dir dein T-Shirt ausziehen?'', fragte sie mich, wobei ich das leichte Beben in ihrer Stimme hörte und ich nickte.
Solange sie die Initiative ergriff, war das hier in Ordnung für mich. Ich ließ zu, dass sie es mir auszog und mit den Fingern über meine Haut fuhr.
Und obwohl ich so etwas schon mal gemacht hatte, war das hier eine ganz neue Erfahrung für mich. Denn ich hatte mich einem anderen Menschen noch nie so nahe gefühlt wie ihr.
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Band 4 der Living Reihe - Living my best life ✔️
General Fictiondas wunderschöne Cover und Banner sind von @EndeLegende ,,An den Tagen, an denen du dich selbst nicht ertragen kannst, erinnere dich an alles, was dein Körper geleistet hat. Er mag von Narben gekennzeichnet sein und nicht deiner unrealisistischen Tr...