Ein unerwarteter Besuch

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Ein unerwarteter Besuch

Nachdem er hundert holprige Hügel hat erklommen
Dann voll Erschöpfung vierzig einsame Sümpfe durchschwommen
Erreicht ein Wanderer, beherrscht von Wissbegier und Leid
Die heimelige Behausung der alten Dame Zeit

Im Schaukelstuhle verweilend empfängt sie den Gast
Auf schneebedeckter Veranda und fern jedweder Hast
Serviert der aschfahlen Gestalt heilsamen Kräutertee
Zum schrillen Sturmesheulen über dem eisigen See

Sie spricht: „Warum bist du in diese Ödnis geflohen?
NICHTS erwartet dich hinter todbringenden Bergeshöhen."
Aber der Suchende erwidert, von Ehrfurcht erfüllt:
„Ich hoffte, dass ihr meinen Drang nach Antworten stillt!"

Die Dame horcht und häkelt zugleich am Schal der Geschichten
Denn grobe Zerstreuung würde besagtes Werk vernichten
„Mögt ihr umkehren der Zeiten Fluss? Dies einzig' Mal bloß?
Mancher Verlust von Vergangenem ist ein solch hartes Los!"

Mit schmerzverzerrter Miene ihm jene Bitte entfleucht
So die gerührte Gastgeberin gar selig keucht
"Ich müsste Maschen auftrennen und später wiederbringen
Doch die getreue Replik würd' mir nimmermehr gelingen"

„Mein unermüdliches Garn erzählt im Dunkeln wie bei Lichte
Eine kaum begreifbare, da niemals endende Geschichte
Glaube mir, das Werk bedarf der ewigen Verrichtung
Darum gestalte DEINEN Lebensweg durch eigene Dichtung!
Solch winzig' Menschenschicksal nämlich ist nicht vorherbestimmt
Es dauert bloß ein Weilchen, bis abermals dein Herz erglimmt"

Und nach einem Tomatenbrot als Abschiedsspeise
Entlässt sie den Wanderer auf seine nächste große Reise

(2023)
Siehe auch "Alte Dame".

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