1. Schnee

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Der Wind heulte um das Haus und auch der Hund winselte gelegentlich unter dem alten Eichentisch in der Küche. Auch nach einem halben Jahr vermisste sie immer noch ihr Herrchen.

Maries Eltern hatten ihr dieses Haus hinterlassen. Ihr Elternhaus, in dem sie aufgewachsen war. Ihre Mutter lebte bereits seit Jahren nicht mehr und nun war sie seit ein paar Monaten für das alles hier alleine verantwortlich, nachdem auch ihr Vater gestorben war. Ihre Eltern hatten ihr ein sehr gutes Erbe hinterlassen, aber die ehemalige Pferdezucht brachte einiges an Arbeit mit, auch wenn sich die Pferde in der Regel in einer Robusthaltung stets auf den Koppeln befanden. Sie kannte jeden Winkel hier, drinnen ebenso wie draußen. Regelmäßig mussten die Zäune der Pferdekoppeln kontrolliert werden und so entging ihr keine Veränderung  auf den knapp fünf Hektar, die das Grundstück umfasste. Von Bäumen und Knicks ringsum gegen Erosion geschützt, befanden sich auch auf dem Gelände selbst unzählige Bäume und auch die Kastanienallee, die die schier endlose Zufahrt säumte, ächzte unter der Schneelast.

Heute hatte es Katastrophenalarm gegeben und so hatte sie die Tiere von den Koppeln mit den Offenställen in den geschlossenen Stall geholt. Gelegentlich drang ein leises Wiehern durch den Wind, aber die meisten Geräusche wurden verschluckt. 

Auch gerade fielen die Flocken so dicht vom grauen Himmel, dass sie die Stallungen knapp 100 Meter vom Wohnhaus entfernt nur erahnen konnte. Zwischen Haus und Stall öffnete sich die Allee zu einer Seite, auf der sich Reitplatz und Zirkel befanden.

Es war gerade erst halb vier am Nachmittag und dennoch dämmerte es bereits. Marie seufzte und die braune langhaarige Jagdhündin schlich leise bis unter die Küchenbank.

„Nix da! Komm Nele, wir müssen los. Noch einmal die Lage checken und die Pferde füttern und du solltest dich auch noch mal erleichtern. Die Nacht wird lang werden."

Gehorsam trottete die vierjährige Hündin hinter ihr her und sah zu, wie Marie sich ihre gefütterte Wachsjacke anzog, einen dicken Wollschal drei Mal um den Hals wickelte und eine Strickmütze auf den Kopf setzte. Bevor sie in die hohen Stiefel stieg, legte sie noch einen großen Scheit Holz in den Ofen, dann schnappte sie sich die große Taschenlampe.

Obwohl die Tür ein Stück zurückgesetzt lag und sie sie nur einen Spalt öffnete, trieb der Wind sofort einen Schwung Schnee herein, der die Fliesen rutschig machte. Doch sie kannte das und schlüpfte eilig hinaus.

Sie liebte Schnee, aber in diesem Jahr hatte es Frau Holle besonders gut mit ihnen gemeint. Sie hoffte nur, dass nicht wieder alles zusammenbrechen würde wie damals Ende der 70er Jahre, als viele Ortschaften abgeschnitten waren, der Strom wegblieb und die Menschen auf sich alleine gestellt waren. Hier war sie völlig ab vom Schuss und ihre Eltern  hatten damals davon berichtet, dass sie jemanden von der Bundeswehr hier hatten, der Lebensmittel mit dem Hubschrauber gebracht hatte und dann geblieben war, um die junge Familie zu unterstützen, da Maries großer Bruder gerade erst wenige Wochen alt gewesen war. Marie war gut sieben Jahre nach ihm auf die Welt gekommen und hatte den Hof im Prinzip nie verlassen. Hier zwischen Nord- und Ostsee fühlte sie sich wohl, dort, wo es ein Katzensprung bis zur dänischen Grenze war und sie in einer Viertelstunde am Meer sein konnte.

Doch jetzt gerade war sie froh, wenn sie es bis zum Stall schaffte. Der Schnee stand kniehoch und bald klebte ihr trotz des Unwetters der Schweiß auf der Stirn.

Solange noch ein Rest Tageslicht die ohnehin schon kaum vorhandene Sicht erleichterte, kletterte sie durch mehrere Zäune und Tore, bis sie den Stall einmal umrundet hatte und beleuchtete immer wieder das Dach mit den Schneemassen, ob wirklich noch alles in Ordnung war, soweit man das beurteilen konnte.

Endlich waren sie und Nele wieder am Eingang angekommen und sie zog die alte geteilte Holztür klappernd hinter sich zu. Trotz fehlender Heizung war der Stall durch die ausgestrahlte Wärme der Tiere angenehm temperiert. Das vertraute Schnauben der Pferde hüllte ihr Herz in eine heimelige Vertrautheit. Sie begrüßte ihre zwei Isländer Odin und Freya, den großen Tinker Pferdinand, der neben dem Friesen namens Sterling stand.  Zum Schluss durfte auch das alte New Forest Pony Mille Fleur, auch Blümchen genannt, nicht fehlen, dann reichte sie ihnen je eine Karotte. Ihr Vater hatte Holsteiner für den Springsport gezüchtet und war damit sehr erfolgreich gewesen. Einige Zuchtstuten waren noch da und standen auf der anderen Seite des Stalls. Dann füllte sie Futter in die Raufen der einzelnen Boxen, kontrollierte, ob die Wasserversorgung dem Wetter nicht zum Opfer gefallen war und verteilte zum Schluss noch Heu vor den Boxen.

Pappeln im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt