Doch sie mussten noch ein Wochenende länger warten. Obwohl Flos Mutter sich bereit erklärte hatte, ihn zu fahren, war er noch nicht im Stande, die restlichen Schmerzen zu kompensieren. Sie einigten sich auf Samstag Mittag, doch schon am Mittwoch fühlte Marie sich nicht gut. Sie kämpfte massiv mit Müdigkeit und wenn sie sich aus dem Bett quälte, um sich um die Tiere zu kümmern, wurde ihr schwindelig. Aber es nützte nichts. Die Tiere mussten versorgt werden. Immerhin konnte sie Olli fragen, ob er seine Dienste verlängern konnte. So weit es die Uni ermöglichte, war er sehr dankbar für jeden Euro, den er zusätzlich verdienen konnte.
„Marie, was bist du so außer Atem? Ist irgendwas passiert?", fragte er besorgt, als sie im Licht der aufgehenden Sonne zum Stall hinunterging.
„Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich hab mir nur was aufgesackt. Ich fühl mich nicht so besonders." „Du bist auch ganz blass um die Nase. Ich mach das hier. Mein Seminar heute Mittag fällt aus, ich muss erst spät hin. Ich schaff das hier heute alleine. Leg die Füße hoch." „Danke, Olli. Ich muss noch einkaufen. Aber ich freue mich, wenn ich das jetzt erledigen kann. Ich danke dir! Und vergiss nicht wieder, dir die Überstunden aufzuschreiben!"
Sie setzte sich ins Auto und freute sich schon jetzt auf den Moment, wenn sie wieder im Bett liegen würde. Hoffentlich war der Mist bis zum Wochenende wieder weg. Sie freute sich wirklich auf das Treffen mit Flo und besorgte alles für einen schönen Abend. Die letzten Treffen waren sehr angespannt und geradezu beklemmend gewesen. Sie wünschte sich, dass es dieses Mal wieder etwas ungezwungener sein würde. In der Apotheke holte sie sich noch etwas gegen die Übelkeit, dann ging es endlich wieder nach Hause.
Als sie eine Weile geschlafen hatte, klingelte es. „Ich bin's!", hörte sie Jules Stimme direkt unter dem Fenster.
„Komm rein! Ich liege im Bett."
Nur Jule und Flo hatten einen Schlüssel zur Wohnung. Für den Notfall.
„Du siehst ja immer noch so mies aus. Und du liegst mitten am Tag im Bett!" Jule stand in der Tür und lehnte sich lässig an den Rahmen. „Ja. Bleib, wo du bist! Ich will dich nicht anstecken." „Herzchen, ich glaube nicht, dass das ansteckend ist..." Ohne auf Maries Reaktion zu warten, warf sie ihr etwas aufs Bett.
„Willst du mich verschaukeln? Ein Schwangerschaftstest?" Sie setzte sich auf und drehte den kleinen Karton in den Händen hin und her.
„Dir geht es seit Tagen nicht gut, siehst aus wie eine Wand, hast einen Kreislauf, den man kaum noch als solches bezeichnen kann."
„Ja, aber..." „Wann hattest du zuletzt deine Mens?"
„Ähm..." , begann sie, doch je länger sie überlegte, umso mehr füllten sich ihre Augen mit Tränen.
„Jule, was ist, wenn du recht hast?" „Darüber kannst du nachdenken, wenn du es weißt. Aber du weißt, ich habe praktisch immer recht."
Schniefend stand Marie auf und taperte ins Badezimmer. Das Schniefen wurde immer lauter. Schließlich öffnete Jule die Tür und sah Marie auf dem Klodeckel sitzen. Den Test in der zitternden Hand. Tränen rannen aus ihren Augen und tropften über die Nasenspitze hinunter auf ihr Handgelenk.
Jule nahm ihr den Test aus der Hand. „Positiv."
„Können wir jetzt bitte darüber reden, wie beschissen das ist? Was mach ich denn jetzt?" „Aber du und Flo, ihr wolltet doch immer Kinder. Aber es hat nie geklappt. Willst du jetzt keine mehr? Hast du das Thema für dich abgehakt?" „Irgendwie schon. Nach all den Jahren."
„Tja, dann hast du fünf Möglichkeiten." Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und zählte an den Fingern ab.
„Du kannst es abtreiben lassen." „Scheidet aus." „Sicher?" „Absolut!"
„Okay. Du kannst es zur Adoption freigeben." „Klingt für mich nicht nach einer Option."
„Du kannst es alleine großziehen." „Puh, ich weiß nicht."
„Du kannst es behalten und gemeinsam mit dem Vater großziehen."
Marie zuckte mit den Schultern.
„Oder du gibst es zum Vater." Jule sah sie schief an. „Weißt du, wer der Vater ist?"
Marie nickte. „Ja. Keinen Zweifel."
Jule raufte sich die Haare. „Oh nein. Ich dachte immer, er wollte keine Kinder." „Doch. Aber es hat nie geklappt mit seiner Frau."
„Aber das ist doch super!" „Was ist denn daran super?" „Na, nicht, dass es bei denen nicht geklappt hat, aber dass er Kinder will." „Aber doch nicht mit mir! Der denkt doch bestimmt, dass ich ihm das Kind einfach angehängt habe, um ihn an mich zu binden! Jule, wir sind nicht mal ein Paar!"
„Ja und? Sprich mit ihm!" „Nein!" „Was redest du denn da?! Wieso willst du nicht mit ihm sprechen?" Verständnislos sah Jule ihre Freundin an.
„Weil ich nicht will, dass er nur wegen des Kindes mit mir zusammen sein will." „Was für ein ekelhaftes Klischee! Willst du aus Prinzip das Kind alleine großziehen, auch wenn du es vielleicht gar nicht müsstest?"
„Verdammt, ich weiß nicht, was ich will! Ich muss das erstmal sacken lassen!"
„Habt ihr nicht verhütet? Ihr seid doch keine 18 mehr!"
„Nein, irgendwie nicht. Es war leichtsinnig, klar, aber ich dachte..." „...nicht besonders viel?" „Ja, das auch. Aber er und Joelle hatten keine Kinder bekommen und ich konnte doch auch nicht. Zumindest nicht mit Flo. Es war in meinem Kopf gar keine Option mehr, dass bei dem Akt auch ein Kind bei herauskommen könnte!"
Jule musterte sie. Sie kannten sich schon lange und sie wusste, wie sehr sich die beiden damals Kinder gewünscht hatten und dass auch immer wieder etwas zwischen den beiden lief. Und sie war noch nie in ihrem Leben schwanger gewesen. Ein bisschen konnte sie nachvollziehen, dass dieses Thema bei ihr nicht mehr so präsent war.
Aber Paddy?
„Hat er nie etwas zu dem Thema gesagt?" „Zu Kindern?" „Nein, zu Verhütung."
Marie schüttelte den Kopf, während sie sich die Nase putzte. „Nein. Vielleicht hat er gedacht, dass ich die Pille nehme, weil da doch was mit Flo läuft." „Das weiß er?!" „Ja. Das wusste er schon, als noch nichts mit uns lief."
Beide schwiegen einen Moment.
Plötzlich lächelte Jule. „Marie, du bekommst ein Baby!" „Ich weiß. Ich kann es bloß nicht glauben." „Das geht vielen so. Ich hab auch schon von einigen Müttern meiner Kiddies auf Arbeit gehört, dass sie es auch beim zweiten Kind kaum fassen konnten, bis es endlich da war."
Instinktiv legte Marie ihre Hand auf den Unterleib. Wieder stiegen Tränen in ihre Augen.
Sie war ein absolutes Opfer ihrer Hormone.
„Oh Gott..."
„Was ist denn, wenn er dich und das Baby möchte? Kannst du dir das vorstellen?" „Puh, gute Frage." „Empfindest du denn etwas für ihn?" „Ja...", hauchte sie ohne zu zögern, denn wieder blockierte ein Kloß ihre Sprache.
„Und Flo? Empfindest du noch etwas für ihn? Du hast immer gesagt, dass er ‚der Eine' ist und er es nur noch erkennen muss!"
„Ich weiß! Ich weiß es nicht! Irgendwie hab ich das Gefühl, als würde er immer einen Platz in meinem Herzen haben. Du weißt, dass ich immer davon geträumt habe, dass wir zusammen alt werden. Aber was nützen Träume, wenn sie nur einer träumt? Er weiß, was ich seit Jahren für ihn fühle." „Und der Ring?" „Ach ja, der Ring. Oh Mann, was ist, wenn ihr recht habt?" „Ihr? Paddy weiß von dem Ring?" „Ja, klar. Er war ja dabei." „Das ist doch alles völlig verrückt. Aber er hat die gleiche Vermutung angestellt?" „Ja." „Und es stört ihn nicht?"
Marie wiegte den kopf hin und her. „Doch, es schien ihn schon zu stören."
„Aber er ist trotzdem nach London gefahren", sprach Jule aus, was sie dachte.
„Was soll er denn machen? Er hat einen Job, wie du weißt!" „Ja klar. Und irgendwie ist gerade das sehr beeindruckend an ihm. Mit welcher Energie und Freude und Einsatz er seinen Job macht." „Ja, das stimmt. Aber privat ist er noch so viel mehr und irgendwie doch ganz normal."
„Ja, er wirkt auf jeden Fall sehr sympathisch."
„Ja. Ich glaube auch, dass er mich mag. Aber ich habe keine Ahnung wie sehr. Oder ob er mich nur als Groupie oder so sieht. Aber er meinte an an Silvester, dass er mich vermisst hat."
„Das klingt nett. Die Frage ist wie sehr. Und ob er dich vermisst hat oder nur das, was ihr getan habt." „Ich hab ihn so etwas Ähnliches gefragt. Er sagte ‚beides'."
„Marie, sprich mit ihm! Es wird ihm doch ohnehin auffallen, wenn er irgendwann wieder hier auftauchen sollte!"
„Dann darf er nicht mehr hier auftauchen!"
„Marie, du bist doch total bescheuert! Hör doch nur mal, was du da sagst! Ich hoffe, du siehst klarer, wenn du eine Nacht drüber geschlafen hast. Ich mach mich jetzt auf den Weg nach Hause oder brauchst du noch irgendwas? Sind die Tiere versorgt?" „Ja, die bleiben wieder draußen." „Das Wetter ist ja wieder in Ordnung."
„Genau. Es sind nur noch Reste an den Wegrändern. Die Schneeglöckchen kommen schon durch die gefrorenen Böden. Ich liebe das."
Jule lachte. „Genau. So kenne ich dich!! Halte dich an das, was du liebst und, was dich die Dinge positiv sehen lässt! Lache, wenn es nicht zum Weinen reicht!" „Nun reicht es aber! Steck dir deine schlauen Sprüche an den Hut!" „Das sind nur die Hormone." „Jule, du machst mich irre! Danke für den Test und fürs Zuhören. Und jetzt hau ab. Ich will schlafen!" „Tschühüß! Ich hab dich lieb!" „Ich hab dich auch lieb. Ich melde mich."
Doch die Stille, die sich ausbreitete, als sie ihr Auto nicht mehr hören konnte, war ohrenbetäubend! Obwohl sie zum Umfallen müde war, rasten Gedanken wie Schnellzüge durch ihren Kopf, die Lider sprangen immer wieder wie von selbst auf. Sie kam einfach nicht zur Ruhe.
Sie würde ein Baby von Paddy bekommen. Sie musste an diese ganzen Plakate denken „Paddy, ich will ein Kind von dir!". Sie wollte es eigentlich nicht. Sie hatte es auch nie gewollt. Doch jetzt war es so. Die Schwangerschaft zu unterbrechen stand tatsächlich nicht zur Debatte.
Und wider Erwarten schlief sie dann doch darüber ein.
Doch leider war es beim Aufwachen nicht so, dass ihre Welt wie sonst aussah und sie gar kein Problem hatte. Wieso hatten sie nicht verhütet? Immerhin konnte es noch schlimmere Probleme als ein Baby geben.
Aber irgendwie empfand sie es als unfair, das Baby als Problem zu bezeichnen. Es war ihr Baby. Es würde ihr Sohn oder ihre Tochter werden.
Und Paddys.
Wie sollte sie es ihm nur beibringen?
Am besten erst, wenn er wieder da war.
Das Handy klingelte. Paddy.
Jetzt nur nichts anmerken lassen.
„Hi." „Hi", antwortete sie.
„Alles klar bei dir?" „Ja, wieso?" „Weil du so kurz angebunden bist." „Du hast doch auch nur „hi" gesagt", erwiderte sie und merkte selbst, dass sie ein wenig patzig klang.
„Marie, bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?" „Nein. Also ja. Also ich bin nur müde und fühl mich nicht so gut. Ich pack mich gleich auf die Couch und guck fern oder so." „Mitten am Tag?" „Keine Ahnung. Vielleicht brüte ich was aus oder so."
Sie schloss einen Moment die Augen. Dämliche Formulierung ...
„Sorry. Ich bin gerade einfach nicht so gut drauf", entschuldigte sie sich. Er konnte doch nichts für ihre Laune.
„Kann ich irgendwas für dich tun?" „Du bist doch so weit weg! Aber ich danke dir trotzdem."
Sie hörte ihn leise seufzen. „Ich werde zwischendurch mal nach Deutschland kommen." „Okay." „Marie.." „Was ist denn?" „Ich würde gerne deinetwegen nach Deutschland kommen."
Sie schluckte. „Oh."
„Du klingst ja nicht sonderlich begeistert." „Doch. Natürlich würde ich dich gerne wiedersehen. Paddy, es tut mir leid. Ich bin wirklich nicht gut drauf heute." „Ich merke das. Ist denn irgendwas passiert?"
Marie schwieg einen Moment. Einen Moment zu lang.
„Was ist los?", hakte Paddy erneut nach.
„Ich erzähle es dir ein anderes Mal." „Hat es etwas mit mir zu tun?" „Nein, naja, nicht direkt. Wir hören die Tage okay?" „Okay. Bye, Mary."
Sie legte auf und Tränen liefen über ihre Wangen. ‚Nicht direkt?!'. Was redete sie denn da? Viel direkter ging es ja nicht!
Sie würde ihn so gerne in die Arme schließen. Sie träumte davon, dass er sich freuen würde, wenn sie es ihm sagte. Aber sie traute sich einfach nicht! Was wäre, wenn er sich nicht freuen würde?
Sie drehte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht in ihrem Kissen. Selten hatte sie sich so zerrissen gefühlt.
Plötzlich stupste sie etwas in die Seite. Nele.
Ach verdammt. Wie sollte sie sich um ein Kind kümmern, wenn sie ihren Hund vergaß.
Ach Quatsch. Natürlich würde sie das schaffen!
„Komm! Du sollst nicht darunter leiden, dass wir in ein paar Monaten nicht mehr unter uns sind." Sie setzte sich auf die Kante, wartete auf den Kreislauf und stand auf. In der Küche nahm sie noch ein großes Glas Wasser zu sich, dann ging es schon etwas besser.
„Warte einen Moment, Nele. Geht gleich los." Sie nahm sich das Handy zur Hand, das Paddy ihr geschenkt hatte, und tippte ungeübt auf dem Display herum.
Danach ging sie eine kleine Runde mit Nele, sammelte ein paar Eier aus dem Hühnerhaus und ging in die Badewanne, als sie wieder drinnen war. Die frische Luft hatte gut getan, doch sie hoffte, dass sich diese chronische Übelkeit bis Sonnabend verflüchtigt haben würde.
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Pappeln im Schnee
FanfictionWinter. Schnee. Viel Schnee. Und zwei Menschen, die einander brauchen.