14. Stille

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Nele saß neben ihr und schleckte die Finger der herabhängenden Hand.
„Ja. Nun sind nur noch wir beide da. So wie sonst. Naja, und die Pferde. Komm, wir satteln Freya und reiten die Zäune ab. Wenn das Wetter sich hält, können die Pferde nachher endlich mal wieder raus."
Es war so schön gewesen, als er neben ihr durch den Schnee geritten war. Es war zwar von Anfang an klar gewesen, dass er weiterziehen würde, aber leicht war es ihr nicht gefallen. Auf jeden Fall, würde sie dieses Weihnachten nie vergessen. 
Während sie im Schritt das riesige Gelände kontrollierte, versanken ihre Augen immer wieder im Schnee, der im Sonnenlicht geradezu magisch glitzerte. Immer wieder fanden ihre Gedanken zu Paddy zurück. Rechnete sie damit, ihn wiederzusehen? Eher nicht. Trotzdem glaubte sie, dass er sich melden würde.
Im Anschluss ließ Marie die Pferde auf die Koppel und schwang sich auf den Hanomag, um Heu in den Offenstall zu bringen.
Nele flitzte immer in ihrer Nähe herum, und trotzdem war es erschreckend still. Der Himmel hatte mittlerweile zu einem tristen Grau gewechselt, aber es war kein Neuschnee für heute angekündigt worden.
Drinnen angekommen, heizte sie die Küchenhexe an und legte Brötchen in den Backofen. Sie spulte ihre Wochenendroutine ab, alles war wie immer und doch war nichts wie bisher. Das Haus war leer.
Er war nur wenige Tage ihr Gast gewesen. Wie hatte er so eine Lücke hinterlassen können?!
Sie nahm die Brötchen aus dem Ofen  belegte sie, nahm sie dann aber mit ins Badezimmer, wo sie die Wanne volllaufen ließ und sich hineinlegte.
Wieso fühlte sie sich gerade so schrecklich allein? Sonst hatte sie sich selbst genügt. Selbst die Wanne machte es nicht besser.
Als sie angezogen auf dem Sofa saß, griff sie nach dem Telefon. Eigentlich hätte sie noch einiges an Papierkram zu erledigen, aber stattdessen entschied sie sich dafür, Jule anzurufen.
„Hi! Was machst du?" „Ich hab gerade Weihnachtsessen mit meiner Mutter und meiner Schwester gemampft. Man kann bei uns endlich wieder durchkommen." „Bei uns auch. Bleibt es bei Silvester?" „Auf jeden Fall. Es sei denn, die Eiszeit kommt zurück." 
„Du trinkst aber einen mit mir!" „Du weißt ich trinke nicht. Ich kann auch ohne Alkohol fröhlich sein." „Ich weiß. Aber zu besonderen Anlässen machste mal ne Ausnahme!"
Marie hörte ein Stöhnen am anderen Ende.
„Wir war eigentlich dein Weihnachten?", fragte Jule, statt zu reagieren.
„Überraschend gut." „Nanu? Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet." „Ja. Ich hatte überraschend einen Leidensgenossen, der mit seinem Auto im Schnee liegen geblieben ist. Der war dann ein paar Tage hier."
„Du hast einen wildfremden Mann in deinem Haus schlafen lassen?!"
„Ja...", gab Marie zu. „Aber was hätte ich denn machen sollen? Er kam nicht mehr weg. Hätte ich ihn erfrieren lassen sollen?"
„Ne, aber wenn das ein Irrer gewesen wäre oder ein Vergewaltiger und Mörder?" „Das hätte durchaus sein können, aber ich denke, du hättest das gleiche getan. Du weißt doch, wie es kurz vor Weihnachten hier aussah!" „Wahrscheinlich hast du recht. Aber ihr habt euch verstanden? Wie alt war er?" „Anfang 40." „Ui, das ist ja noch fast ins Beuteschema passend. Verheiratet?"
Marie überlegte. „Ähm, nein. Geschieden. Und dann ist Flo hier aufgetaucht!" „Nein!" „Doch!" „Ohhh!"
Beide lachten. „Wie hat er reagiert?" „Er hat mir einen Diamantring geschenkt." „Ist nicht wahr! Will er dich heiraten? Nach all den Jahren?"
Marie zuckte mit den Schultern, auch wenn Jule es nicht sehen konnte. „Keine Ahnung. Er ist dann abgehauen." „Was sagst du, wenn er fragt?"
„Das ist eine verdammt gute Frage."
„Das wäre eine seltsame aber ehrlich Antwort auf die Frage, ob du ihn heiraten willst."
„Haha. Nein, ich meinte, ich weiß nicht, was ich antworten würde."
„Aber war es nicht das, was du immer wolltest?"
„Ja", sagte Marie nachdenklich, „aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher." „Hat der Fremde etwas damit zu tun?" „Vielleicht." „Das klingt spannend! Ich würde so gerne mehr erfahren, aber hier gibt es jetzt Nachtisch." „Lass es dir schmecken. Wann kommst du Silvester?" „Gegen Mittag?" „Klingt super!" „Ich freu mich!" „Ich mich auch!"
Sie legte auf und war wieder alleine, doch ihr Handy piepste. Paddy. Sie hatte seine Nummer eingespeichert, ihm aber ein Pseudonym gegeben. Yeti. Ja, für einen Yeti war er zwar ein bisschen klein, aber wer wusste das schon so genau. Immerhin waren Yetis ja doch eher ein Mythos.
„Hey Marie, vielen Dank noch mal für die schöne Zeit, die Wärme und Fürsorge, die du mir gegeben hast."
„Immer wieder gern! Schön, von dir zu hören! Ich hoffe, du bist gut angekommen!" „Noch nicht, aber ich melde mich, wenn. Ich musste nur gerade an dich denken." „Freut mich. 😁Fahr vorsichtig."
Erst am nächsten Morgen beschäftigte sie sich mit dem Chaos auf ihrem Schreibtisch. Danach den Plänen fürs nächste Jahr. Sie spielte mit dem Gedanken, eine Reitschule zu eröffnen. Dafür müsste aber mehr Personal her und idealerweise eine Reithalle. Das wäre eine Investition. Ein paar Schulpferde wären von Nöten, ihre privaten würde sie dafür nicht in Erwägung ziehen. Alternativ würde sie versuchen, an die Zuchterfolge ihres Vaters anzuknüpfen. Eigentlich würde ihr das besser gefallen. Damit würde sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten und bei einer Reitschule wäre es mit der Ruhe hier vorbei und gerade die liebte sie. Zwei oder drei Unterstellpferde könnte sie sich vorstellen, aber das andere würde den ganzen Hof halbwegs öffentlich machen.
Die nächsten Tage verglich sie die aktuell erfolgreichsten Hengste, verschaffte sich auch einen Überblick, mit welchen Hengsten bzw. Kombinationen ihr Vater Erfolg gehabt hatte.

Pappeln im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt