Als er wieder herauskam, hatte Marie Nele ebenfalls rausgelassen und hatte die Sachen für die Reparatur des Hühnerverschlags zusammengesucht.
„Was willst du denn mit der Kettensäge?!", fragte Paddy irritiert und Marie hob selbige vom Boden auf.
„Bleibt es dabei, dass du Weihnachten hier bleiben willst?"
Er schluckte. Hatte er es wider Erwarten mit einer Irren zu tun?
Zaghaft nickte er.
„Dann brauchen wir einen Weihnachtsbaum. Komm, im Forst stehen noch ein paar Nordmanntannen, die ins Haus passen müssten. Erleichtert atmete Paddy aus. „Zuerst den Baum?" „Jawohl. Hast du noch die Handschuhe?"
Tatsächlich waren diese seit dem nächtlichen Einsatz noch in seiner Jackentasche und er zog sie zum Beweis heraus.
Der Schneefall wurde immer dichter und sie beeilten sich, um rechtzeitig mit allem fertig zu werden.
„Der?", fragte Paddy, aber Marie schüttelte den Kopf. „Zu klein."
„Größe ist nicht alles." Er runzelte die Stirn. „Wieso guckst du denn jetzt so enttäuscht?"
„Mach ich doch gar nicht! Was sagst du zu dem hier?", widersprach sie sofort und deutete auf den nächsten Kandidaten.
„Zu perfekt."
„What?!"
„Lass ihn wachsen, er ist so schön. Zu perfekt muss ich nicht zu Hause haben. Das gucke ich mir lieber aus der Ferne an. Manchmal ist weniger perfekt genau richtig."
Skeptisch musterte sie ihn.
Sprach er noch von den Tannen?
Doch dann wandte sie sich wieder den Bäumen zu.
„Was ist mit dem?", schlug sie einen weiteren vor und er nickte bedächtig. Er streckte den Arm aus, um die Kettensäge zu nehmen, doch Marie begann zu lachen.
„Du hast wohl nicht mehr alle Saiten auf der Gitarre. Erstens kannst du nicht ernsthaft glauben, dass du mein Gerät anfassen darfst und zweitens werde ich nicht das Risiko eingehen, dass du einen deiner kostbaren Finger verlierst."
Stöhnend verdrehte er die Augen. „Mach nicht so einen Aufstand. Was hast du nur immer mit meinen Fingern? Ich wohne auch in einem Haus. Da nehme ich auch mal eine Bohrmaschine, einen Hammer und, wenn ich richtig krass sein will, eine Säge in die Hand. Es kommt sogar vor, dass ich mal die Hecke kürzen muss!" Mit dem Gesicht eines Abenteurers berichtete er, doch Marie blieb wiederum unbeeindruckt. „Dort bist du aber ganz alleine schuld, wenn was passiert."
Dann setzte sie die Säge in Gang und brachte den Baum zu Fall.
„Well done, my dear", lobte er sie, doch aus ihrem Gesichtsausdruck wurde er nicht recht schlau.
„Ist irgendwas?", hakte er nach und sie hielt ihn nicht davon ab, als er den Baum aufhob.
Es war tatsächlich etwas. Etwas, das ihr schon seit dem Vortag immer wieder durch den Kopf ging. Langsam stapfte sie hinter ihm her.
„Darf ich dich was fragen?" „Klar", antwortete er, ohne sich umzusehen.
„Also gleich mal vorweg: alles, was wir reden, bleibt unter uns." „Gut. Irgendwie war ich davon ausgegangen."
„Hm. Also. Du bist doch verheiratet, oder? Ich frage mich schon die ganze Zeit, wo deine Frau ist."
Es fühlte sich seltsam an, die Frage auszusprechen, doch das Schweigen, das folgte, war noch merkwürdiger.
„Ich ähm...", begann er schließlich. „Wir sind geschieden. Getrennt sind wir schon länger, aber die Scheidung ist erst seit zwei Monaten rechtskräftig." „Oh krass. Das tut mir leid. Ich hatte ja keine Ahnung. Sorry, ich wollte nichts aufwühlen!" „Kein Problem. Es hat halt nicht funktioniert. Aber mal im Ernst, was hast du für eine Antwort erwartet?" „Ich weiß nicht, vielleicht dass es mich nichts anginge. Oder dass sie selbst irgendwo zu Besuch ist oder auf Arbeit unabkömmlich. Aber zumindest erklärt das, warum ich vorhin das Gefühl hatte, dass du mit mir flirtest." Sie hielt den Kopf zum Boden gesenkt, doch er drehte sich nicht um, sondern ging mit dem Baum auf der Schulter einfach weiter.
„Und ich dachte schon, dass du es nicht einmal bemerkt hättest." Sie sah seine Mundwinkel nicht zucken, als sie ihn irritiert von hinten ansah. „Hä? Wie sollte ich nicht bemerkt haben, dass deine Frau nicht dabei ist?"
Er lachte los. „Nein! Ich hatte befürchtet, dass du nicht bemerkt hast, dass ich versucht habe, mit dir zu flirten."
„Oh, achso."
Inzwischen waren sie wieder am Haus angekommen und Paddy stellte den Baum ab. „So, wohin damit?"
Bevor Marie antwortete, zog sie ihren Schlüssel aus der Tasche und öffnete ein hölzernes Tor im Haupthaus. „Hier rein. Da kann der Schnee schmelzen und die Spinnen und Käfer sich ein neues Heim suchen."
Als sie das Licht einschaltete, zeigte sich eine Garage, in die mindestens zwei Autos passen würden.
„Wow. Wieso parkst du im Carport, wenn du sowas hast?" „Weil das Tor nur manuell zu öffnen ist und da hab ich meist keine Lust zu. Irgendwann muss ich das mal nachrüsten."
Sie schloss hinter sich zu und zeigte auf eine Tür in der Ecke, als sie Paddys fragendes Gesicht sah. „Da ist der Durchgang zum Wohnbereich."
Er hatte den Baum gegen die Wand gelehnt und folgte ihr, während sie zu einer weiteren Tür ging, hinter der sich eine Art Lager befand. Die Glasbausteine an der gegenüberliegenden Seite des Raumes ließen wegen des aufgetürmten Schnees nur sehr spärlich Tageslicht durch, das das Innere schummrig erhellte. Sie griff nach einem Karton im Regal und reichte ihn Paddy, dann nahm sie einen weiteren. „Weihnachtsdeko", erklärte sie. Er lächelte und dieses Lächeln strahlte eine tiefe Zufriedenheit aus. Sie konnte nicht umhin, es zu erwidern.
In der Küche stellte Paddy den Karton auf den Tisch und ging wieder nach unten zum Holzlager, wo er sich ein paar Scheite auf den Arm legte.
„Was hast du vor?" „Die Küchenfee anzünden. Es ist kalt."
Marie lachte. „Das ist aber nicht sehr nett." „Wieso nicht?" „Naja, in diesem Fall, wäre ich wohl die Küchenfee. Du meintest die Küchenhexe. Und das wiederum wäre sehr nett und zuvorkommend."
„Fee Hexe, die können doch beide dafür sorgen, dass einem heiß wird."
Dieses Mal stellte er sich deutlich geschickter an als am Morgen und schon bald verbreitete sich wieder die wohlige Wärme. Doch statt sich die Kälte aus den verfrorenen Gliedern treiben zu lassen, brachen sie sofort wieder auf zum Hühnerstall. Marie stabilisierte den Dachbalken und fixierte mit den Krampen das Gitter daran. Zum Schluss wurde noch das Dach geflickt und eine Holzplatte am Hühnerverschlag verschraubt.
Inzwischen war die Dämmerung fortgeschritten und sogar Nele freute sich, dass es endlich wieder nach drinnen ging.
„Vielen Dank für deine Hilfe." Marie zog sich die Stiefel aus und stellte sie neben die Tür, wo Paddys Boots bereits standen.
„Gern geschehen. Immerhin bietest du mir ein Obdach. Ach, da fällt mir ein..." Er hängte seinen Anorak über die Heizung und tippte auf seinem Handy. „Hey Joey!" Er lachte auf. „Ja ja, mir geht es gut. Aber ich komme hier nicht mehr weg. Der Schnee..." Er nickte ein paar Mal. „Irgendwo in Schleswig-Holstein. Wo genau? Öhm. Fischen oder so." „Angeln!", raunte Marie ihm zu. „Sorry, Angeln nicht Fischen. Ja, ich hab noch eine Unterkunft gefunden. Adresse? Frag mich nicht." Wieder beobachtete Marie verzückt, wie er auflachte. „Nein, das ist kein Problem. Nein, ich bin nicht traurig, dass ich nicht mit euch feiern kann. Oh, nein, so war das nicht gemeint. Ich meinte, ich bin nicht traurig, weil ich nicht alleine feiern muss. Ich bin ja nicht der einzige, der nicht mehr wegkommt. Ja, es wird ein anderes Fest als sonst. Aber vielleicht auch deshalb ein ganz besonderes. Eine Kirche ist leider auch nicht erreichbar, aber ich habe das Gefühl, dass Gott trotzdem bei mir ist. Immerhin muss ich nicht im Stall schlafen." Wieder lachte er. „Nein, so wie Josef und Marie, meine ich. Was? Ja, natürlich Maria, hab ich doch gesagt. Gut, Bro, ich muss Schluss machen. Gruß an alle. Macht euch eine schöne Zeit!"
Dann drehte er sich wieder zu Marie um. „Was grinst du denn so?" „Ich grinse doch gar nicht!" „Oh doch. Über das ganze Gesicht!"
Sie zuckte mit den Achseln und stieg beladen mit Einkäufen die Treppe hinauf.
„Hast du auch so Hunger?", fragte sie, als er neben ihr die anderen beiden Beutel auf den Tisch stellte, während sie schon dabei war, die Inhalte der anderen an ihre Bestimmungsorte zu räumen.
„Mordsmäßigen Hunger!" „Heute gibt es aber etwas Schnelles. Tortelloni mit frischer Tomatensoße." „Klingt verlockend. Kann ich was helfen?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke nicht. Ich muss zugeben, ich hab mich ja schon immer gefragt, wie du privat so bist." „Und wie bin ich?" Er ließ sich auf die Küchenbank fallen und sah sie gespannt an.
Marie begann, die Zwiebeln zu würfeln. „Ich sage es ungern, aber ich bin enttäuscht."
Paddys Gesicht wurde immer länger.
„Du bist seit fast 24Std hier und hast noch nicht ein einziges Lied gesungen. Du hast nicht mal gesummt!"
Erleichtert atmete er aus. „Ja, das stimmt. Das passiert mir eigentlich auch selten. Es tut mir leid, dass ich dich so enttäuscht habe. Vielleicht kann ich das ja wieder gutmachen." „Ich hab mir halt bisher gedacht, dass du bestimmt immer ein Lied auf den Lippen hast. Aber abgesehen davon, glaube ich, dass du deutlich cooler bist, als du selbst meinst." „Danke für die Blumen." Dann stand er auf und griff nach seinem Gitarrenkoffer, doch in dem Moment löste sich der Griff des selbigen und mit einem schnellen Reflex hatte er den Kasten aufgefangen. „Au! God damn!" Er stellte den Kasten wieder auf den Boden und steckte seinen blutenden Daumen in den Mund.
„Was ist passiert?" Marie war herbeigeeilt und sah die Blutstropfen auf den Bodenfliesen.
„Die Niete." Er zeigte mit der anderen Hand auf die Stelle, wo bis eben noch der Griff gewesen war und aus der eine abgerissene scharfkantige Niete ragte.
„Hast du Ziegel darin oder warum hat das nachgegeben?" „Ha ha. Ich vermute, das hat die Kälte nicht vertragen oder es war ein Montagsmodell, hatte aber auch schon ein paar Jahre auf dem Buckel, vielleicht war die Zeit einfach um", mutmaßte er mit dem Daumen im Mund.
Marie wühlte in einer Schublade und zog eine Pflasterrolle heraus, von der sie einen Streifen abschnitt.
„Zeig her." Sie setzte sich neben ihm auf die Bank.
Ein Hauch Rasierwasser umgab ihn und vernebelte ihren Geist ein wenig.
Mit einem sauberen Tuch trocknete sie den Daumen, nachdem er ihn aus dem Mund genommen hatte. Dann zog sie das Pflaster straff über die Wunde, die nach wie vor blutete.
Seine Hände fühlten sich toll an. Die Haut war weich und die Nägel sehr gepflegt. Es tat ihr leid, dass sie sie wieder loslassen musste. Doch schließlich räusperte sie sich, bevor ihr Verhalten merkwürdig werden würde.
„Ich fürchte, du musst ohne Gitarre singen." „Muss ich?" „Absolut!" „Nur, wenn du mitsingst." „Meinetwegen. Aber schön ist das nicht. Und ich singe keine Songs von dir!"
„Wieso nicht?" „Weil du jeden Texthänger mitbekommen würdest!" Sie sah ihn an mit einem Ausdruck im Gesicht, der den Inbegriff der Selbstverständlichkeiten beinhaltete. Der Grund lag schließlich auf der Hand.
„Glaubst du nicht, dass ich die Texthänger auch bei den anderen Songs mitbekommen würde? Immerhin muss ich die Texte ja so gut kennen, dass wir sie zusammen singen können."
Sie stutzte kurz. „Hm ja, vielleicht", gab sie zähneknirschend zu.
„Hey, ich hab sogar Hänger bei meinen eigenen Liedern!" „Mir doch egal. Aber wenn ich sie habe, wärs mir peinlich. Auf Weihnachtslieder könnten wir uns allerdings einigen." „Deal. One more happy Christmas!"
Marie stand auf und nahm sich die Tomaten. „Ich glaube, du musst doch alleine singen."
Paddy hob entschuldigend die Hände. „Sorry. Stille Nacht?" „Hm, na gut."
Marie begann zu singen, ohne ihre Essenvorbereitungen zu unterbrechen. Und Paddy setzte nach dem ersten ‚heilige Nacht' ebenfalls ein. Doch schon am Ende der ersten Strophe kam sie ins Stocken. Paddy erkannte den Kloß in ihrem Hals. Als sie aufhörte zu singen, sang er weiter und sie hörte, wie er näher kam.
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Pappeln im Schnee
FanfictionWinter. Schnee. Viel Schnee. Und zwei Menschen, die einander brauchen.