9. Cerberus

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Gemeinsam schaufelten sie Heu auf die Stallgasse, wo sie es hinterher verteilten. Nachdem auch das Futter in den Raufen und das Wasser gecheckt war, bekam jeder noch eine Karotte. „Frohe Weihnachten, ihr Lieben", murmelte Marie, während sie gedankenverloren Pferdinands Stirn kraulte. Paddy hörte die Traurigkeit in ihren Worten. „Das war meinem Vater immer wichtig. Die Tiere wurden zuerst versorgt und an Feiertagen ging er nie, ohne an sie zu denken. Es sind für uns alle ungewohnte Zeiten."
„Ich weiß. Und nein, ich sage nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt. Du wirst sie nie vergessen und sie werden dir immer fehlen. Aber mit der Zeit wird es einfacher damit umzugehen."
Er zog sie in seine Arme und kraulte ihr sanft den Nacken, bis sie wieder lächelte.
„Danke. Und jetzt ab ins Warme, bevor der Ofen keinerlei Glut mehr hat", seufzte Marie und Paddy nahm sie an die Hand und zog sie hinter sich her. „Dein Ofen scheint aber allerhand Glut zu haben."
Marie lachte nur und folgte ihm nach draußen, wo sie aber prompt auf ihn prallte, als er abrupt stehen geblieben war.

„Was ist denn mit dir...", begann Marie lachend, doch dann sah auch sie den Reiter, der auf einem riesigen Rappen durch den stetig fallenden Schnee auf sie zugeritten kam.
„Wer ist das denn, dass der bei dem Wetter hier auftaucht? Mit dem Auto is der wohl nicht liegen geblieben", überlegte Paddy laut und bemerkte Maries Blick, der irgendwie abwesend wirkte.
„Cerberus", antwortete sie leise.
„Der Höllenhund. Die Eltern müssen einen bösen Humor haben. Klingt nicht nach einem Namen für ein Wunschkind." Paddy schmunzelte, doch er ahnte, dass sie nicht von dem Reiter gesprochen hatte, als sie seine Hand losließ. Sie schloss die Tür vom Stall, drehte sich wieder dem Reiter zu und ging auf ihn zu. Sie lächelte.
Es störte Paddy, wie er überrascht feststellte, und plötzlich wusste er, wen er vor sich hatte.
Der Mann mit der schwarzen Mütze und dem blonden Pferdeschwanz lobte sein Pferd und stieg ab. Auch er lächelte, doch sein Blick fiel immer wieder auf Paddy, der neben der Stalltür stehen geblieben war.
„Hi Flo", begrüßte Marie den Neuankömmling, der mehr als einen Kopf größer als Paddy war. Trotz der dicken Winterkleidung wirkte er schlank und sportlich. Es lag etwas Liebevolles in seinen Augen, während er Marie betrachtete. Es wurmte Paddy. Doch diesen Flo schien auch seine Anwesenheit zu stören, wie Paddy wohlwollend zur Kenntnis nahm.
„Hallo Marie." „Wieso nimmst du den Weg bei dem Wetter auf dich? Bist du wahnsinnig?! Du hättest doch anrufen können."
Immer wieder traf ihn der Blick seines Kontrahenten, doch mit abfälligen Blicken kannte Paddy sich aus, die juckten ihn wenig.
„Ich wollte dich sehen. Und ich wollte nicht, dass du Weihnachten alleine feiern musst, erst recht nicht nach dem, was dieses Jahr passiert ist." Er räusperte sich missbilligend. „Aber wie ich sehe, hast du Besuch." „Ja, das ist, ähm, Patrick."
„Hallo!", begrüßte Paddy ihn aufgesetzt freundlich und streckte ihm die Hand entgegen, doch Flo blickte nur kurz darauf und reagierte nicht. Stattdessen richtete er sich wieder an Marie. „Dann bin ich hier wohl überflüssig."
Er wandte sich zu Cerberus um, aber Marie schloss schnell zu ihm auf und legte die Hand auf seinen Arm. „Hey Flo, bitte sei nicht sauer. Das ist total lieb, dass du gekommen bist. Wir sehen uns ein andermal wieder, okay?" „Klar", antwortete Flo. Dann sah Paddy, wie Marie sich auf die Zehenspitzen stellte, um diesen Flo zu umarmen. Auch seine Arme schlossen sich fest um sie. „Ich wünsche dir frohe Weihnachten", raunte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Paddy spürte einen Stich in seinem Bauch, ließ es sich aber nicht anmerken. Zumal dem anderen weiterhin deutlich zu missfallen schien, dass sie mit ihm gleich nach drinnen gehen würde und er alleine nach Hause musste.
„Das wünsche ich dir auch", erwiderte sie, lächelte und ließ ihn wieder los. „Komm gut nach Hause. Schreib eine Sms, wenn du heil angekommen bist."
Er saß auf, dann betastete er fast hektisch seinen Oberkörper und die Hosentaschen. „Ach, Moment. Ich habe doch noch irgendwo... ah ja, hier. Frohe Weihnachten." Er reichte ihr ein kleines Päckchen und zauberte damit ein freudiges Lächeln auf ihre Lippen. „Danke! Soll ich es jetzt aufmachen oder später?" „Mach ruhig später, wenn du beim Weihnachtsbaum sitzt. Du hast doch einen Baum?" „Ja, hab ich. Mach ich. Ich bin sehr gespannt. Danke dir. Grüß deine Eltern ganz lieb." „Richte ich aus. Ich will morgen zu ihnen. Ich soll auch schön grüßen."
Dann nickte er Paddy zu und winkte Marie zum Abschied. Sie sah ihm einen Augenblick nach, bis er nicht mehr zu sehen war.
„Lass uns reingehen", sagte sie seufzend und ging los. Paddy schloss sich schweigend an. Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen.
„Mir tut es leid, dass er so unhöflich war. Aber gerade darum frage ich mich, worüber du dich so freust."
Er benetzte amüsiert seine Lippen. „Das war er oder?" „Ja." „Er war rasend vor Eifersucht."
Marie lachte. „Ach Quatsch." „Oh doch!" Seine Augen sprühten vor Genugtuung.
„Blödsinn! Wie kommst du darauf?" „Alles non-verbale an ihm schrie es förmlich heraus. Da war seine demonstrative Unhöflichkeit nur die Spitze des Eisbergs." „Aber da hat er doch gar keinen Grund zu!"
Inzwischen waren sie im Haus angekommen und Paddy schaute zu, wie Marie Nele abtrocknete, während er selbst seine nasse Kleidung auszog.
„Hat er nicht? Wir haben eben miteinander geschlafen." „Ach? Haben wir das?" Marie grinste frech.
„Und so wie du mich gerade ansiehst, hat er genug Gründe, um eifersüchtig zu sein." „Aber er will mich doch gar nicht."
„Du würdest ihn sofort zurücknehmen?"
Marie biss sich auf die Unterlippe, nahm wie immer einen Arm voll Holz mit hoch und Paddy tat es ihr gleich.
„Nein", antwortete sie schließlich, nachdem sie das Holz abgelegt hatte. „Nicht mehr. Er war der einzige, den ich je geheiratet hätte. Ich denke auch, dass er das weiß. Aber er kann sich nicht durchringen, mit mir wieder eine Beziehung zu führen. Ja, ich mag ihn noch. Wir haben eine lange Vergangenheit und gelegentliche Gegenwart, aber wenn es nach so langer Zeit nicht für ein „bis ans Ende aller Tage" gereicht hat, dann ist der Zug abgefahren."
„Er liebt dich. Man sieht es an seinen Augen." „Nein, nicht so. Er liebt mich als Freundin. Irgendwie vielleicht sogar beste Freundin, aber nicht als Partnerin."
„Aber du empfindest noch etwas", stellte er fest.
Sie zuckte mit den Achseln. „Er ist mir wichtig. Aber empfinden? Ich habe keine Schmetterlinge im Bauch, wenn ich ihn sehe." „Eifersucht?" „Nein, eigentlich nicht. Er hatte ja Beziehungen oder Affären in den ganzen Jahren nachdem wir uns getrennt hatten. Und ich ja auch." „Und das war okay für euch beide? Habt ihr euch gesehen in den Zeiten?"
Sie atmete langsam aus und ging in die Küche, wo sie die Küchenhexe wieder anheizte und die Gans aus dem Kühlschrank nahm.
„Ja, wir haben uns gesehen." „Ihr hattet eine Affäre miteinander?", bohrte er neugierig nach.
„Ja", gab sie zu und als sie sich umdrehte, war klar, dass sie sich nicht wohl dabei fühlte. Aber auch sie sah, dass etwas nicht stimmte. „Ja, ich weiß, dass das gegen die Gebote verstößt und einfach mies ist. Aber damals konnte ich nicht anders und er auch nicht. Irgendwie war er für mich der Eine." „Vielleicht hättest du dich dann nicht auf jemand neuen einlassen sollen." „Ja, da hast du recht und ich bin alles andere als stolz auf mein Verhalten! Aber inzwischen weiß ich, dass er nicht der Eine ist. Ich war verliebt in eine Illusion. Mittlerweile sehe ich uns einfach quasi als Zweckgemeinschaft."
Paddy schnaubte. „Zweckgemeinschaft?" „Naja, so lange ich Single bin, spricht doch nichts dagegen. Aber sollte ich mich noch mal in jemanden verlieben, würde ich das für nichts auf der Welt wieder aufs Spiel setzen. Und ohne Liebe würde ich keine Beziehung mehr eingehen."
„Hm", brummte Paddy und plötzlich hatte sie das Gefühl, er würde sie verurteilen. 
„Warst du immer treu? Du, der Popstar?!", fragte sie geradeheraus und sie merkte, wie er seine Kiefer aufeinanderpresste. „Nein. Ich habe damals in den 90ern eine Freundin gehabt und dann war da diese eine Nacht. Natürlich kam es raus." Er holte tief Luft. „Ich sah den Schmerz in ihren Augen. Ich hatte sie wirklich gern. Aber wie sehr ich ihr weh getan habe, weiß ich inzwischen."
Marie lehnte rückwärts gegen die Arbeitsfläche und hatte ihre Hände links und rechts neben sich platziert. Forschend musterte sie ihn. „Joelle hat dich betrogen, richtig?"
Er nickte. „Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe. Vielleicht war ich zu viel auf Tour, vielleicht habe ich ihr zu Hause nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet. Aber sie wusste doch, wie mein Leben aussieht!"
Auch wenn er sie nicht mehr zurücknehmen würde, so sah Marie doch, wie sehr sie ihn verletzt hatte und wie tief dieser Schmerz immer noch saß.
„Ich bin gleich wieder da", sagte er mit gebrochener Stimme, doch Marie ergriff das Wort. „Du musst nicht weggehen. Du musst...deine Tränen nicht verstecken. Es ist okay, dass man mal nicht okay ist und eigentlich weißt du das."
Er hielt inne und sie ging auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. So wie er es bei ihr tags zuvor getan hatte.
„Oh Mann, du musst mich für eine Heulsuse halten. Wahrscheinlich denkst du, ich bin ihr immer noch vollkommen verfallen." „Nein, das denke ich nicht. Beides nicht. Aber ihr habt ebenfalls eine lange gemeinsame Vergangenheit. Ich finde es sehr verständlich, dass der Schmerz noch immer tief sitzt und auch die Enttäuschung, dass man seinen Lebenstraum nicht aufrecht erhalten konnte. Vielleicht fühlt man sich auch verhöhnt und verspottet, auch wenn das nicht ihre Absicht gewesen war. Ich weiß es ja nicht, aber so oder so kann ich verstehen, dass es dich noch sehr berührt. Irgendwie spricht es für dich, dass es dich nicht kalt lässt und du nicht einen auf Mr. Cool machst."
Seine Hände schlossen sich noch fester um sie. Er drückte sich regelrecht an sie, vergrub sein Gesicht in ihren offenen Haaren. „Es tut gut, mit dir zu reden. Du tust mir gut. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich je mit jemandem nach so kurzer Zeit so offen geredet habe." „Ich auch nicht."
Es fühlte sich gut an, sie so fest im Arm zu halten und es war wunderbar, einen Moment so fest in seinen Armen zu liegen. Doch schließlich atmeten sie tief durch und lösten sich voneinander. Beide grinsten mit schwimmenden Augen. „Rotwein?", fragte Marie schniefend und er nickte. „Ich bin dabei." „Gut. Und dann muss endlich diesem Vogel eingeheizt werden, sonst wird's zu spät."

Pappeln im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt