6. Salz

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Paddy hörte auf zu singen. Vorsichtig berührte er sie an ihrer Schulter und drehte sie zu sich herum. Wortlos nahm er sie in den Arm und sie ließ es geschehen. Er spürte, wie sie anfing zu schluchzen und ihr Körper zu beben begann. Seine Hand an ihrem Rücken zog sie fest an ihn, wollte Halt spenden und tat es. Als ihr Weinen weniger wurde, lockerte sich sein Griff. Behutsam strich er ihr über den Rücken und allmählich breitete sich Ruhe aus.
„Es ist dein erstes Weihnachten alleine?" „Ja", brachte sie leise hervor.
„Hast du deshalb nichts geschmückt und keinen Baum?" „Wahrscheinlich. Ich hab das Ganze irgendwie verdrängt."
Langsam löste sie sich von ihm und holte aus einer Schublade eine Packung Taschentücher hervor. „Es tut mir leid, dass du mitbekommen hast, wie ich dekompensiere. Ich bin eine erwachsene Frau. Ich sollte mich besser im Griff haben. Erst recht, wenn Besuch da ist." Sie putzte sich die Nase, bevor sie ihn wieder ansah.
„Nein, das ist okay. Auch erwachsene Menschen haben Gefühle und sie dürfen sie auch zeigen. Ich weine auch manchmal." „Ich weiß." „Ach?" „Sing mein Song? Why don't you go?"
Er sah sie schief an. „Siehst du." „Ja, aber das ist okay. Männer dürfen Gefühle zeigen." „Und Frauen nicht? Wieso ist es bei mir in Ordnung und bei dir nicht?"
Marie zog die Brauen zusammen. „Ey! Hör auf mich mit meinen eigenen Argumenten zu untergraben!" 
„Ich kann mich noch genau erinnern, wie furchtbar das erste Weihnachten ohne unsere Mutter war?" „Du warst noch sehr jung." „Ja, aber ich werde das nie vergessen." „Und als dann auch mein Vater gestorben ist, fühlte ich mich allein. Da half es auch nicht, so viele Geschwister zu haben. Der letzte Pfahl im sicheren Hafen war weg. Mit seinen Geschwistern versteht man sich nicht mit allen gleich gut. Meine Eltern liebten mich bedingungslos."
Marie nickte und blickte in die Dunkelheit der Nacht hinaus, als sie etwas sah. „Hey, da ist ein Räumfahrzeug auf der Kreisstraße! Das wäre deine Chance, hier wegzukommen. Wer weiß, wie schnell das wieder zugeweht ist! Und niemand weiß, wie lange die Großwetterlage vorhält." Geradezu auffordernd sah sie Paddy an, als sie sich zu ihm herumdrehte.
Sie runzelte die Stirn. „Was ist? Willst du nicht los?" „Nein. Ich sagte doch, ich würde gerne bei dir Weihnachten feiern. Das habe ich wirklich so gemeint. Es sei denn, du möchtest das nicht. Dann pack ich meine Sachen."
Aufrichtig beobachtete er ihre Reaktion. 
„Ich bleibe auch dabei. Ich fände es sehr schön, wenn du bleiben würdest."
Ehe sie sich selbst davon abhalten konnte, griff sie nach seiner Hand und drückte sie. Er erwiderte es, doch dann zog er sie erneut in seine Umarmung. „Dann haben wir das hoffentlich endgültig geklärt", murmelte er leise.
Marie war irritiert. Eben hatte er sie getröstet, aber jetzt?
Doch wieder brachte dieser betörende Geruch sie von ihrer Vernunft ab. Langsam sog sie ihn in sich auf.
„Alles klar?", hakte er nach und sie wand sich räuspernd aus seinen Armen.
„Weißt du eigentlich, wie unfassbar gut du riechst?", erklärte sie und wandte sich wieder ihrem Schneidebrett zu.
Sie sah sein amüsiertes Lächeln, als sie sich zu Seite drehte, um den Käse aus dem Kühlschrank zu nehmen.
„Oh. Bitte sag nicht, dass das Parfum noch von Joelle stammt." „Nein, ganz im Gegenteil. Meine Schwester hat es mir zu Scheidung geschenkt. ‚Damit ich schnell jemanden Neues finde'"
Marie prustete los. „Zur Scheidung? Ist ja der Knüller! Welche Schwester war so unsensibel?" „Maite."
Marie kicherte. „Schlechter Musikgeschmack.  Gutes Händchen für Männerparfum." „Ich werde es ausrichten."
„Lieber nicht. So und jetzt setz dich bitte an den Tisch. Da kann sich ja niemand aufs Kochen konzentrieren."
Paddy lachte und gehorchte. Nele nahm vor ihm Platz und ließ sich kraulen. 
Es brutzelte auf dem Herd und dann hörte Marie, wie Paddy begann, vor sich hinzusummen.
Er wirkte gut gelaunt. Es war ansteckend und half, ihren Kummer zu verdrängen.
„Wie geht's deiner Hand?", fragte Marie, während sie sich eine Nudel aus dem Topf fischte. Paddy sah von dem Lokalblatt auf, in dem er gerade blätterte.
„Ganz gut." „Traust du dir zu, den Tisch zu decken?" „Ja, klar." Er  klappte die Zeitung zu und ging zu der Schublade, die sie ihm gerade geöffnet hatte, und holte zwei Teller heraus, die er auf den Tisch stellte.
Wenig später saßen sie zusammen vor den gefüllten Tellern und sie sah, wie Paddy stumm die Lippen bewegte, bevor er ihr einen guten Appetit wünschte.
„Sehr lecker", lobte er das Essen, nach dem ersten Bissen.
„Danke, aber es ist eine einfache Mahlzeit. Freut mich, dass es dir schmeckt."
Sie aßen schweigend weiter, doch immer wieder streifte der Blick des einen das Gegenüber. Man beobachtete sich verhalten.
Paddy hielt seine Neugier zuerst nicht mehr aus. „Worüber denkst du nach?"
Marie stocherte auf ihrem Teller, wusste nicht, ob sie wahrheitsgemäß antworten sollte.
„Sag schon. So schlimm kann es doch nicht sein. Oder doch?" Seine Stimme wurde leiser und erleichtert sah er, wie sie lächelte und aufsah. „Nein, schlimm nicht. Zumindest nicht für mich. Zumindest nicht direkt. Ich...ich würde gerne mehr über dich erfahren. Aber ich weiß, dass mich diese Dinge eigentlich nichts angehen." „Warum willst du sie dann wissen?"
Marie zuckte mit den Achseln. „Weil ich neugierig bin. Ich will das nicht mit irgendwem teilen und mich über besonderes Wissen profilieren. Ich will es nur für mich wissen." „Du willst mich kennenlernen."
Sie schnaubte. „Naja. Schon, aber ich bin nicht naiv. Dieses wird in verschiedener Hinsicht ein besonderes Weihnachtsfest für mich sein, aber mir ist klar, dass du dann in dein normales Leben zurückkehren wirst. Zu deinen Musikerkollegen, deiner Familie, deinen Freunden. Ich komme aus vollkommen anderen Kreisen. Wozu sollte ich mir vormachen, dass wir Freunde werden könnten."
„Du würdest dich mit mir anfreunden wollen?" Überraschung klang in seiner Stimme mit.
„Ja, sicher. Du bist ein interessanter Mensch. Deine Geschichte, vor allem dein Mut, die Erfahrungen, die du gesammelt hast, die Art, die du hier von dir zeigst. Mal ganz abgesehen von deiner Kreativität auf dem Papier und der Bühne. Du bist ein spannender Charakter. Aber behaupte nicht, dass dich das überraschen würde. Wie viele Interviews drehen sich bei dir immer wieder um die selben Fragen. Es ist beeindruckend, mit wie viel Professionalität du immer wieder die gleichen Geschichten erzählst und selben Antworten gibst, als würdest du sie das erste Mal erzählen."
Paddy hatte ihr eine Weile zugehört und dabei weitergegessen, als sie endete, hob er die Hand mit der Gabel hoch, streckte den Zeigefinger und deutete auf sie. „Und doch hast du immer noch Fragen. Möchtest du dieselben Antworten hören oder stellen die Menschen mir deiner Meinung nach die falschen Fragen?"
Marie sog zischend die Luft zwischen den Zähnen hindurch. Grinsend blickte sie auf. „Letzteres. Aber wie gesagt, mir ist eigentlich klar, dass die Antworten auf diese Fragen mich nichts angehen. Von daher vergessen wir es einfach."
Sie gestikulierte nervös mit der Hand auf dem Tisch herum, bis er seine Hand auf ihre legte. „Hey. Frag einfach. Ich muss nicht antworten." Dann nahm er seine Hand wieder weg und füllte sich eine zweite Portion auf. „Möchtest du auch noch?" „Ja, ein kleines bisschen." Nach einer kurzen Pause räusperte sie sich und sah ihn wieder an. „Ist dies auch dein erstes Weihnachten alleine?"
Sein Gesicht wurde ernster, langsam nickte er. „Mehr oder weniger. Daher hab ich auch gleich zugesagt, als Joey dieses Familientreffen anberaumt hat."
Marie wartete schweigend ab, ob er noch mehr erzählen würde und tatsächlich fuhr er nach einem kurzen Moment wieder fort. „Nachdem wir die Scheidung eingereicht hatten, haben wir noch eine Weile zusammengewohnt. Ich habe mich zwar umgemeldet, doch das Haus, das ich mir gekauft habe, musste erst renoviert werden. So haben wir letztes Weihnachten zusammen verbracht."
Sein Gesicht wurde immer trüber. „Es war nicht wirklich schön. Die Stimmung war angespannt, zudem hat das Wissen, dass es das letzte Mal sein würde, einen wirklich bitteren Beigeschmack hinterlassen."
„Man denkt, es ist für die Ewigkeit und dann..." „Ja. Genau."
Marie hatte das Besteck auf dem Teller abgelegt und ihre Hände ruhten auf dem Tisch, während sie darauf wartete, dass er vielleicht noch mehr erzählen würde. Doch sie sah, wie sein Kinn zitterte und plötzlich sprang er auf und verließ die Küche.
Verdammt! Sie hätte nichts sagen sollen! Sie hatte nichts aufwühlen wollen! Doch auf der anderen Seite, hatte er von ganz alleine weitergeredet. Aber sie konnte ihn nicht mal in den Arm nehmen, so wie er das bei ihr getan hatte. Wenn jemand den Raum verlässt, möchte er seine Ruhe. Sie fühlte sich wirklich mies.
Langsam aß sie weiter und nach ein paar Minuten kehrte er zurück. Seine Augen sahen verweint aus und langsam schloss er die Tür hinter sich. „Sorry. Es war nicht deine Schuld."
Marie lag ein ‚sondern?' auf der Zunge, doch mühsam schluckte sie es herunter.
„Es ist nur, also..." „Ihr habt euch nicht im Einvernehmen getrennt", stellte Marie ruhig fest. Er nickte. „Nein, haben wir nicht." „Du musst nichts weiter erzählen, wenn du mir nicht vertrauen kannst. Du kennst mich ja nicht. Ich kann deine Vorsicht verstehen."
„Danke." Er lächelte matt, aber dankbar.
Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl plumpsen und aß den Rest seiner Nudeln auf. Schließlich schob er sein Besteck auf der rechten Seite des Tellers zusammen und blickte nachdenklich aus dem Fenster in die Dunkelheit. Erschrocken zuckte er zusammen, als er Maries Hand auf seiner spürte. „Es tut mir leid. Ich wollte das nicht wieder aufwärmen. Ich hab nicht genug nachgedacht. Es hätte mir klar sein müssen, dass das ein sehr schweres Thema für dich ist. Es heißt, sie sei deine Jugendliebe gewesen. Es tut mir sehr leid, dass es nicht funktioniert hat."
Sie sah, wie er seine Lippen zusammenpresste und ein Nicken andeutete.
Er drehte seine Hand leicht zur Seite und erwiderte ihren Händedruck.
Marie atmete tief durch und ließ seine Hand wieder los.
„Möchtest du Nachtisch?" „Hast du Bier?" „Sicher. Aber ich dachte eher an Eis oder Pudding oder so was in der Art." „Bier reicht erstmal."
Marie flitzte kurz nach unten in den Hauswirtschaftraum und kehrte mit mehreren herrlich kühlen Flaschen Pils zurück.
„Wieso bist du eigentlich Single? Oder gibt es doch jemanden irgendwo?" „Nein, gibt es nicht. Meine letzte Beziehung ist zwei Jahre her." „Hängst du noch an ihm?" „Nein. Absolut nicht. Ich hab ewig nicht mal mehr an ihn gedacht. Er fehlt mir nicht. Wir hatten uns auseinandergelebt. Es funktionierte nicht mehr. Wir sind dann im Einvernehmen auseinandergegangen." „Seid aber trotzdem nicht mehr miteinander befreundet oder so?" „Nein. Wozu? Wir hatten beide kein Interesse mehr aneinander." „Wie lange seid ihr zusammen gewesen?"
Marie blickte nachdenklich zur Decke. „Drei Jahre etwa." „Und seitdem niemand?"
Sie schmunzelte. „Naja, keine Beziehung."
Paddy zog eine Braue hoch. „Ah ja."
Nein, sie war kein Flittchen. Aber wenn man eben jemand hat, den man schon lange kennt und man weiß, dass es in der Hinsicht passt, dann kann man sich doch bei Bedarf auf eben dieser gemeinsamen Ebene treffen. Ein Freund mit besonderen Vorzügen. Das war doch nicht verwerflich. Aber sie musste es trotzdem nicht vor Paddy im Detail ausbreiten.
Doch Paddy hatte die Ohren gespitzt. „Wie lange kennst du ihn schon?" „Wie kommst du darauf, dass es einen bestimmten gibt?" „Keine Ahnung. Würde zu dir eher passen als wechselnde Liebschaften."
Marie schnaubte und lehnte sich entspannt zurück. „Du bist aber ganz schön neugierig. Ich wusste gar nicht, dass wir uns schon so gut kennen." „Na, wir lernen uns doch gerade kennen oder?" Er zwinkerte.
Lachend nickte sie schief.
„Also wie lange?" Herausfordernd sah er sie an, wie sie den Kopf in den Nacken legte und nachdachte.
„17 Jahre etwa?", schätze sie schulterzuckend.
„Das ist lange. Seid ihr nie ein Paar gewesen?" „Doch. Aber das ist über zehn Jahre her." 
Ungläubig schüttelte Paddy den Kopf.
„Was ist?", hakte sie nach und öffnete sich ebenfalls ein Bier.
„Du wirkst so... hm. Brav ist nicht ganz das richtige Wort." „Sex hat doch nichts mit brav oder nicht brav zu tun. Ich lebe eben gern."
„Sex ist Leben?" „Klar!" „Dann habe ich sechs Jahre nicht gelebt?"
Plötzlich wand Marie sich. „Naja. Es gibt durchaus noch andere Dinge im Leben...", gab sie zu, doch dann räusperte sie sich und grinste. „Aber so sechs Jahre ohne stelle ich mir echt schwer vor."
Auch Paddy feixte. „Das war es..."
Marie beugte sich vor, die Flasche in der Hand. „Ich meine, darf man denn als Mönch mit sich alleine..." Plötzlich hob sie abwehrend die freie Hand hoch. „Ach nein, ich will das gar nicht wissen. Dieses Kopfkino..."
Paddy prustete los und bekam mit Mühe und Not den Schluck Bier hinuntergeschluckt.
Kichernd lehnte sie sich auf dem Stuhl wieder zurück und nahm ebenfalls noch einen Schluck.
„Ich glaube, ich räume mal ab. Ich muss gleich noch zu den Pferden", erklärte Marie, während sie ihr Bier abstellte.
Wortlos sprang Paddy auf und räumte die Teller zusammen. „Danke. Na, wenn du das machst, kann ich ja schon mal los." „Nix da! Du setzt dich bitte wieder. Du gehst nicht ohne mich." „Ach? Ich geht sonst auch ohne dich!" „Sonst haben wir keine Schneekatastrophe."
Sie seufzte und ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen. „Okay, das stimmt wohl." Dafür musterte sie ihn nun mit verschränkten Armen. „Dann warst du vermutlich reichlich ausgehungert, als du in die wirkliche Welt zurückkamst."
Er hatte den Arm auf dem Tisch abgestützt und versteckte den Mund hinter seinem Zeigefinger. Doch sie sah, dass er lachte, dass sogar seine Schultern bebten. „Hmh." Auch seinen Augen konnte man es ansehen. Sie mochte es, wenn seine Augen lachten. Sie sprühten dann vor Leben.
„Darf ich mein Bier noch austrinken oder stellst du mir dann noch mehr verfängliche Fragen?", wollte er wissen, während er die Flasche ansetzte.
„Hey, du hast mit den verfänglichen Fragen angefangen!"
Statt etwas zu erwidern, warf er ihr nur einen vielsagenden Blick zu. Marie fragte sie sich, ob er erneut mit ihr flirtete. Was sollte das?

Pappeln im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt