~5~ Kristall

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"Hast du keine Familie, bei der du sein kannst?", frage ich den Wolf. Ruhig sieht er mich an und bevor ich weiß, was ich tue, steige ich aus dem Fenster.

Zu meinem Glück wohne ich im ersten Stock und kann durch meine kletter Erfahrung einfach aus dem Fenster steigen. Nur mit langem Shirt und Ungerhose bekleidet drehe ich mich zu dem Wolf um. Er war aufgestanden, scheint aber immer noch sehr entspannt zu sein. Ohne darüber nachzudenken schaue ich ihm tief in die grünen Augen.
"Weißt du, ich habe auch keine Familie mehr. Meine Eltern sind bei einem Brand gestorben", langsam stecke ich meine Hand aus und setzte ganz langsam einen Fuß vor den anderen, auf ihn zu. Der Wolf spannt sich an und zeigt mir seine Zähne. Aber er knurrt nicht. Ganz langsam laufe ich weiter.
"Ich würde nur zu gerne wissen, was mit deiner Familie passiert ist", sage ich leise. Meine Hand ist nur noch wenige Zentimeter von seiner Schnauze entfernt. Wenn er will kann er jetzt nach meiner Hand schnappen. Er schnuppert an meiner Hand, legt seine Ohren nach hinten und kneift die Augen zusammen.
"Ich glaube nicht das du mir was tust. Du hattest so viele Gelegenheiten dazu. Vielleicht beschützt du mich ja?", fragend sehe ich den Wolf an. Dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und lege meine Hand zwischen seine Ohren. Ein tiefes Knurren ertönt aus seinem Innersten. Doch nur ganz kurz, dann ist er ruhig. Angespannt bleibt er stehen. Aber seine Ohren stellt er wieder auf. Sein Fell ist ganz weich. Ganz leicht streichel ich ihn.
"Wieso sitzt du hier jeden Nacht? Ist das nicht langweilig für dich?", frage ich den Wolf. Aber natürlich gibt er mir keine Antwort.
"Kann ich irgendwas für dich tun?", frage ich weiter. Vielleicht findet der Wolf seine Familie nicht mehr. Denn jetzt bei näherem betrachten, habe ich das Gefühl, dass es noch ein junges Tier ist.
"Wieso willst du nicht, dass ich in den Wald gehe?", frage ich. Das tiefe Knurren, das ertönt, lässt seinen ganzen Körper beben. Ich ziehe meine Hand zurück und sage schnell: "Okay, okay, falsches Thema!"
Für einen Moment steht der Wolf noch da und schaut mir tief in die Augen. Dann ertönt ein Heulen von weit weg, der Wolf dreht sich um und verschwindet im Schatten der Häuser.
Also hast du wohl doch eine Familie, wenn du auf das Heulen hörst, schlussfolgere ich.
Leichtfüßig klettere ich zurück durchs Fenster. Ich verriegel mein Fenster und lege mich glücklich ins Bett. Die positive Begegnung mit dem Wolf war sehr erleichternd für mich. Ich muss keine Angst mehr vor ihm haben. Jetzt habe ich die Gewissheit, dass er mir nichts böses will und das macht mich glücklich.

Diese Nacht schlafe ich noch besser, als in der Nacht davor. Meine glückliche Grund-Stimmung begleitet mich auch über den Morgen. Ich beschließe Madlin erstmal nichts von meinem treffen mit dem Wolf zu erzählen. Ich habe das Gefühl, sie könnte das nicht verstehen.

"Hast du Lust heute nach der Schule mit zu mir zu kommen?", fragt mich Madlin in der Pause. Überfordert sehe ich sie an. Damit hätte ich nicht gerechnet.
"Ja, gerne", antworte ich nach kurzem überlegen. An sich habe ich ja nichts vor und da Freitag ist, habe ich morgen noch genug Zeit zum entspannen. Der Schultag verläuft wie immer relativ langweilig.

Nach der Schule führt mich Madlin zu einem relativ alt aussehenden Haus. Sie klingelt und eine mittel Alt wirkende Frau mit braunen Haaren öffnet die Türe. Sie schaut kurz verwirrt, dann lächelt sie mich an und sagt: "Hallo, du bist bestimmt Luana. Ich bin Samira, die Mutter von Madlin."
"Hallo, schön Sie kennenzulernen", antworte ich schüchtern.
"Du darfst mich gerne duzen Luana. Kommt erstmal rein ihr zwei", Samira öffnet die Türe ganz und wir laufen an ihr vorbei. Im Hausgang ziehen wir die die Schuhe aus. Ich schaue mich um. Hier hängen viele Bilder von Menschen.
"Hier hängt gefühlt mein ganzer Stammbaum. Unsere Familie hat schon immer hier im Dorf gewohnt. Und sie alle waren Wolfsjäger. Mein Ur-ur-ur-uropa wurde von einem Wolf getötet, seit dem sind wir begnadete Wolfsjäger. Komm ich muss dir das Wohnzimmer zeigen", erzählt Madlin eifrig und zieht mich mit sich ins Wohnzimmer.

Im Schatten des WerwolfsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt