~26~ Stirbt Noah, stirbst du auch

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Wir haben den Rand der Lichtung fast erreicht, als ein neuer Schuss die Nacht zerreißt.

Ich höre das Zischen der auf mich zu fliegenden Kugel. Und im selben Moment, in dem ich den widerlichen Ton, der sich in Fleisch fressenden Kugel höre, nehme ich den stechenden Schmerz in meiner Schulter wahr. Ich Taumel getroffen zur Seite. Sie hatten wirklich auf mich geschossen. Ich will aufgeben, dem Schmerz nachgeben, doch der Wolf in mir ist anderer Meinung. Er scheint den Schmerz zu ignorieren und läuft einfach weiter.
"Getroffen" , ich kann Valentins jubelnde Stimme erkennen. Augenblicklich werde ich wütend auf ihn. Wie könnte er es nur, wagen auf mich zu schießen?
"Sollen wir ihm hinter her? Er hat Noah?", fragt jemand. Oh nein, das ist gar nicht gut. Sie dürfen mir auf keinen Fall folgen. Ich muss Noah sofort zu seiner Mutter bringen und hoffen, dass es nicht zu spät ist. Wenn sie mir aber folgen würden, könnte ich nicht zum Haus zurück.
"Ja! Los, wir können nicht zulassen, dass der Wolf ihn tötet!", höre ich Valentin. Ihre Schritte dröhnen in meinen Ohren. Langsam kommen sie näher. Während ich weiter Taumel, nicht wissend wohin mit mir, Hauptsache weg von hier.
"Warte Mal! Überleg doch erstmal. Wenn der Wolf ihn mit nimmt und zerfetzt, dann kann uns Noah nicht mehr Verraten und wir haben nichts mit seinem Tod zu tun. Die Natur beseitigt auf natürliche Weise unsere Spuren", gibt einer seiner Begleiter zu bedenken. Seine Art zu denken Widerspricht mir komplett. Aber im Moment, will ich einfach nur, dass Valentin ihm zustimmt und aufhört mir zu verfolgen. Das Dröhnen ihrer Schritte bleibt aus. Waren sie stehen geblieben? Verbissen kämpft sich mein Wolf durch das Gestrüpp, was mit einem ohnmächtigen Noah, den wir über den Boden ziehen, gar nicht so einfach ist. Wir kommen immer schlechter voran und auf kurz oder lang würden die Jäger uns einholen.
"Konstantin hat Recht. Wir waren nie da. Wenn Noahs Leiche auftauchen sollte, ist sie völlig zerfleischt, ein besseres Alibi werden wir kaum bekommen", versucht der andere Begleiter, Valentin zu überzeugen.
"Aber er ist ein Mensch! Unsere Aufgabe ist es die Menschen vor den Wölfen zu beschützen, wenn wir jetzt gehen, haben wir auf allen Ebenen versagt", findet Valentin und Schritte werden wieder laut.
"Ach Quatsch, wir haben nur versagt, wenn raus kommt, dass du ausversehen auf einen Mensch geschossen hast. Und das wird nicht passieren, wenn wir den Wolf machen lassen! Komm jetzt, lass uns nach Hause gehen und diese Nacht vergessen. Noah ist so oder so schon tot, du kannst nichts mehr für ihn tun!", entegenet jemand. Ihre Schritte werden wieder laut. Ich brauche ein bisschen, bis ich mir sicher bin, dass die Schritte sich weg bewegen und leiser werden.
'Danke für dein Vertrauen'  tönt es durch meinem Kopf und ich sacke durch das Gewicht von Noah zusammen, als ich ganz plötzlich die Kontrolle über meinen Wolfskörper zurück bekomme. Ich rappel mich auf und schleppe mich und Noah weiter durch den Wald. Ich laufe so schnell ich kann, ohne ihn noch weiter zu verletzen oder tiefer in sein Bein zu beißen. Seine weiche Menschhaut nicht zu verletzen, ist fast unmöglich. Die nächsten Minuten fühlen sich wie Stunden an. Der Wald will sich einfach nicht lichten, um das Haus frei zu geben. Ich bin mir nicht Mal sicher, ob ich noch richtig bin. Am liebsten würde ich verzweifelt aufgeben, aber ich halte durch, für Noah. Wohl wissend, dass jede Sekunde seine letzte sein könnte. Ich kann, wenn ich mich sehr konzentriert, immer wieder ein ganz leise pochen seines Herzens hören, aber wer weiß schon wie lange es noch schlägt?
Meine Glieder schmerzen, meine Schulter brennt von dem Schuss und mein ganzer Körper fühlt sich geschwächt an. Am Rand der Verzweiflung treibe ich mich immer wieder dazu an weiter zu laufen.
Für einen kurzen Moment kann ich das Haus zwischen den Bäumen aufblitzen sehen, dann verschwimmt meine Sicht zu einem dunkeln Grauton. Ich bleibe stehen, dem Ziel so nah und doch so fern. Ich muss auf mich aufmerksam machen. Und bevor ich drüber nachdenken kann, lasse ich Noah sanft los, lege ich meinen Kopf in den Nacken und beginne zu heulen. Das Heulen rauscht einen Moment in meinen Ohren, dann wird mir schwarz vor Augen und ich spüre wie mein Körper zur Seite kippt, dann spüre ich nichts mehr.

Im Schatten des WerwolfsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt