Kapitel 6

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Es war dieses Mal eine ungewöhnlich lange Sitzung gewesen und ich war völlig am Rande meiner Kräfte, als ich spät am Abend nach Hause kam. Ich wollte mich nur noch auf die Couch legen, mit einem Tee und einem Buch und mich noch ein wenig beruhigen, bevor ich ins Bett ging. Ich schlug die erste Seite auf und begann zu lesen. Ich versank völlig in der imaginären Welt meines Romans. Nach einer Weile blickte ich unwillig auf. Irgendwas hatte meine Konzentration gestört, doch ich konnte nicht feststellen, was es war. Stirnrunzelnd sah ich mich im Raum um. Alles normal. Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder meinem Buch zu, doch nach ein paar Sekunden wurde ich erneut gestört. Diesmal konnte ich das Geräusch allerdings als ein leises pochen an meiner Haustür identifizieren. Mein Herz schlug schneller. Wer würde schon mitten in der Nacht einfach so an die Tür einer hohen Rätin klopfen? Ich bekam Angst. Was, wenn die Person, die da draußen war, keines Wegs freundlich gesinnt war? Der hohe Rat hatte viele schlimme Feinde. Leise schlich ich immer näher an die Tür heran. Als ich schließlich direkt davor stand nahm ich all meinen Mut zusammen und öffnete langsam die Haustür. Mit einem leisen Rauschen schwang sie auf und gab den Blick auf eine Gestalt frei, die vom Mondlicht nur schwach beleuchtet wurde. Ich musterte ihn, von unten beginnend. Es war unverkennbar ein Mann, denn er hatte breite Schultern. Langsam ließ ich meinen Blick an ihm hinauf wandern. Über die dreckigen, zerrissenen und, wie ich mit Schrecken feststellen musste, auch blutverklebten Schuhe und Hosen, hinauf an seinem muskulösen Oberkörper mit der ebenso zugerichteten Tunika und über den zerfetzten silbernen Umhang... Moment. Silberner Umhang?! Nur, und wirklich nur Rätinen und Räte trugen silberne Umhänge! Es war ein Statussymbol. Mit einer ruckartigen Bewegung fuhr mein Kopf hoch und ich starrte dem nächtlichen Besucher direkt ins Gesicht. In seine Augen. Blaue Augen mit grünen Sprenkeln. Augen in die ich bereits stundenlang hatte blicken können und nie war es mir langweilig geworden. Ich konnte diese Augen sofort eindeutig zuordnen, während sie mich jetzt unter rötliche Haar hervor musterten. Ich keuchte auf und schlug mir die Hand vor den Mund, als Kenric langsam einen Schritt auf mich zuging :"Hey, Ora." Ich spürte wie mir die Tränen über die Wangen rollten. Das konnte nicht sein, ich musste träumen! Er war doch tot! Zusammen mit Fintan unter einem meterhohen Berg Asche und Stein begraben. Er trat noch einen Schritt auf meine Haustür zu, an der ich mich jetzt krampfhaft festklammerte. Ich schluchzte auf, als er langsam eine Hand hob um mir die Tränen von den Wangen zu wischen. Wie sehr hatte ich geglaubt, dass er das nie wieder tun würde. Ich brach in seinen starken Armen zusammen. Unter Schluchzen versuchte ich etwas zu sagen wie: „schön dich zu sehen", doch das kam mir viel zu schwach vor, für das, was ich empfand. Er war nicht tot. Er lebte. Und er war hier, bei mir.

Eternal heartbeats - Koralie FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt