✴︎ Kapitel 32 ✴︎

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Kathrin war nicht so der Typ für Spaziergänge. Sie war es nie gewesen. Wenn ihre Eltern sonntags mit ihrem jüngeren Bruder durch den immer gleichen Wald die immer gleiche Strecke spazieren gegangen waren, hatte sie es sich auf ihrem Bett bequem gemacht und ein Buch gelesen oder mit ihrer besten Freundin telefoniert. Ihrer einzigen Freundin, wenn man es genau nahm.

Die Vorliebe für ihr Bett hatte Kathrin viel Unverständnis von ihrer Mutter, einer heißblütigen Naturliebhaberin und passionierten Hobbyfotografin, eingebracht. Ihr Vater hatte sie mit einem schiefen Grinsen damit aufgezogen, ob sie ein Vampir sei oder warum sie denn die Sonne und das gute Wetter so scheuen würde. Aber das war es nicht. Kathrin hatte einfach nichts für solche ruhigen Tätigkeiten übrig.

Jetzt gerade, als sie mit der eigenartigen, zusammengewürfelten Gruppe auf den Wald zuging, der sich majestätisch auf den Anhöhen der Pyrenäen erhob, spürte sie die sanft prickelnde Ehrfurcht wie einen Schluck Champagner, der in ihrer Brust sauste und ihre Sinne benebelte. Wahrscheinlich war es dieses Gefühl, das ihre Mutter immer in den Wald gezogen hatte. Doch wenn ihre Mutter einen Spaziergang durch den Wald unternahm, rechnete sie nicht damit, einem wahnsinnigen Magier zu begegnen.

War es also vielleicht auch die Aufregung, die Kathrins Gefühle so in Wallung versetzte? Gut möglich. Aber es war auch egal. Sie liefen geradewegs auf das Unvorhersehbare zu. Was passieren würde stand in den Sternen. Unausgesprochen hing die Frage in der Luft, was passieren würde, wenn das schlimmstmögliche Szenario eintreten würde. Keiner hatte Anela danach gefragt, vermutlich aus Furcht vor der Antwort. Manchmal war es seltsam, wie eine Sache totgeschwiegen werden konnte, als würde sie dadurch von allein verschwinden. Als ob der Elefant im Raum verschwinden würde, weil alle ihn ignorierten.

Tief in ihrem Inneren glaubte Kathrin nicht daran, dass das Mädchen drei andere Menschen in eine Situation bringen würde, die lebensgefährlich werden könnte. Nein, sie konnte das nicht glauben, beim besten Willen nicht. Andererseits konnte auch eine wahnwitzige Selbstüberschätzung der Grund dafür sein, dass das Zauber-Mädchen die Gruppe ins sichere Verderben führte. Frei nach dem Motto ‚Es kann ja nichts passieren, solange ich da bin'. Denn diese Botschaft vermittelte sie in dem, was sie tat und in dem, was sie sagte.

Die Vierergruppe wanderte direkt auf die Pyrenäen zu, die sich riesenhaft vor ihnen erhoben, und für einen Moment kam Kathrin sich vor wie eine Motte, die vom Licht angezogen wurde. Das staubige Flattervieh brummte gemächlich auf die Lichtquelle zu und stürzte sich selbst ins Unglück. Das, wovon es sich angezogen fühlte, wurde ihm letztendlich zum Verhängnis.

„... und hier ganz in der Nähe ist es. Ich weiß nicht genau, warum ausgerechnet hier. Selbst wenn ich wollen würde, könnte ich euch keine Erklärung geben. Wisst ihr, ich spüre die Dinge mehr, als dass ich sie sehe ... oder als dass ich sie weiß. Es ist eine unglaublich kraftvolle Energie. Ich habe es euch vorhin schon erzählt ... Morgan ist der mächtigste Magier seit langer Zeit. Das Kraftfeld, das er geschaffen hat, ist enorm. Jeder ahnt, wo sein Zufluchtsort ist, aber niemand sucht ihn auf - aus Angst", erklärte Anela. Wären nicht die komischen Umstände gewesen, dann hätte Kathrin sich gefühlt wie bei einer geführten Bergwanderung, die mit Sagen und Märchen ein bisschen ausgeschmückt wurde. Nicht, dass sie so eine jemals unternommen hätte. Aber so musste es sich anfühlen.

Das Zauber-Mädchen war mittlerweile aufgetaut. Seitdem sie und Sandro zurückgekehrt waren, hatte sie den gläsernen Würfel nicht mehr aus der Hand gelegt. Gleichzeitig war sie viel offener geworden. Viel sicherer. Kathrin hatte beinahe das Gefühl, als würde dieser Glaswürfel dem Mädchen wie ein Talisman sein. Und sie konnte es ihr nicht verdenken. Kathrin selbst wollte sich zwar nicht als abergläubisch bezeichnen, aber sie wollte auch nicht die Macht eines Glücksbringers von der Hand weisen. Allein die Tatsache, dass man ihn bei sich trug, machte manchmal den Unterschied.

Tief verborgen - Das Refugium | Thriller x FantasyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt