✴︎ Kapitel 6 ✴︎

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Gibt mir mal jemand einen roten Stift, damit ich ein Kreuz in den Kalender für diesen besonderen Tag machen kann?, dachte Sandro vergnügt, als er das Schloss an seinem Fahrrad öffnete. Es war ein Uhr Mittags und er hatte Schulschluss. Aber das war nicht einmal das Beste an der ganzen Sache. Neben ihm stand Anela und hielt gerade seinen Rucksack. Er setzte sich auf den Sitz und nahm diesen wieder entgegen.

„Bist du sicher, dass du nicht auf dem Lenker mitfahren willst?", fragte Sandro. Anela legte den Kopf schief und ließ ihn selbst zur Erkenntnis kommen. Sie trug ja ein weißes knielanges Kleid mit filigraner Lochstickerei an den Ärmeln und am unteren Saum.

Sandro schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und Anela brach in herzhaftes Gelächter aus. Gemeinsam verließen sie das Schulgelände. Sandro fuhr ganz langsam, damit Anela mit ihm Schritt halten konnte.

Als Melissa ihren Platz neben ihm geräumt hatte, war ein Knoten geplatzt. Sandro fand sich selbst total dämlich dafür, dass er nicht schon viel früher auf die Idee gekommen war. Als ob Melissa ihn angebunden hätte! Er war ihr keinerlei Rechenschaft schuldig und trotzdem hatte er es irgendwie nicht gebacken bekommen, sich woanders hinzusetzen. Das hatte er heute endlich getan. Er hatte den Bann gebrochen und sich neben Anela gesetzt.

Und sie war mit Abstand die beste Sitznachbarin, die er jemals gehabt hatte. Die beiden hatten sich köstlich amüsiert, besonders in Deutsch während der Gruppenarbeit. Herr Bentheimer hatte die ganze Zeit ein gerötetes Auge auf Sandro gehabt, aber der hatte das gar nicht so richtig wahrgenommen. Wahrscheinlich hatte der arme Kerl sich jetzt vor der Schule noch etwas reingezogen, damit er den Tag überlebte. Die Schuldgefühle, die Sandro bei dem Gedanken unverhofft überrollt hatten, waren von ihm zur Seite gewälzt worden.

Und nun liefen sie zusammen nach Hause. Naja, nicht wirklich bis nach Hause. Ihre Wege würden sich an der Bushaltestelle trennen. Anela wohnte ganz am äußeren Ortsrand und zum Laufen war es etwas weit, weswegen sie mit dem öffentlichen Verkehrsmittel fuhr. Die Haltestelle war jedoch noch ein ganzes Stück weiter unten, weshalb sie noch einige Minuten Zeit zum Quatschen hatten. Die beiden befanden sich etwa an dem Ort, wo sich der seltsame Unfall ereignet hatte, doch auch das war mehr eine Eintagsfliege, die außerhalb von Sandros Sichtfeld schwebte.

An den Unfall verschwendete Sandro ebenfalls keinen müden Gedanken mehr. Mit Anela lachte er gerade darüber, dass Herr Bentheimer nicht gemerkt hatte, dass er sein Hemd falsch geknöpft hatte. Die ganze Zeit über. Und niemand hatte es für nötig gehalten, ihn darauf hinzuweisen, obwohl jeder es gesehen hatte. Dabei war das nicht einmal das Gröbste. Er hatte ausgesehen, als habe er den Kater der Verdammnis auszubaden. Als Sandro in Herrn Bentheimers Abwesenheit eine Geste gemacht hatte, als würde er rauchen, hatte Anela ihn lachend mit dem Ellbogen angestoßen und er hatte erst recht lachen müssen.

„Der arme Kerl ist so bestimmt auch in die anderen Klassen gegangen", kicherte Anela und wischte sich eine kleine Lachträne aus dem Augenwinkel.

„O ja! Und ins Lehrerzimmer! Ha ha ...", stimmte Sandro ein. Sie kamen gerade an einem kleinen Kiosk vorbei, der neben überteuerten Getränken und Süßigkeiten auch allerlei Zeitungen auf einem Ständer präsentiert anbot. Hier hingen vormittags immer dieselben drei, vier älteren Männer herum, saßen auf Plastikstühlen und tranken ein Bier.

Nach der Schule gaben hier die jüngeren Schüler, die zur nahegelegenen Bushaltestelle liefen, ihr Taschengeld für Schokoriegel und quietschbunte Bonbons aus, die natürlich um einiges teurer waren, als würde man sie in einer größeren Packung kaufen. Manche warfen die Plastikverpackungen einfach sorglos in der Gegend herum. Anela bückte sich und hob eine davon auf. Sie rümpfte die Nase bei dem Anblick.

„Was für eine Sauerei", murmelte sie kopfschüttelnd und steuerte auf einen Mülleimer zu. Sandro schaute in Richtung des Kiosk. Im Moment war nichts los. Kein Mensch stand herum, weshalb Sandro freie Sicht auf die dargebotene Tagespresse hatte. Ein Bild, das ganz groß auf der Titelseite gedruckt war, ließ Sandros Herz ein paar Etagen tiefer rutschen. Es war dasselbe Bild, das er auf dem Handy seiner Mutter gesehen hatte. Ein Junge mit grauem Hoodie und grünem Fahrrad. Das Gesicht verfremdet, aber dennoch gut zu erkennen. Er schluckte. In fetten Lettern prangte die Überschrift „Jugendlicher löst Unfall aus: Totalschaden".

Tief verborgen - Das Refugium | Thriller x FantasyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt