✴︎ Kapitel 44 ✴︎

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Instinktiv wanderten Renés Hände zu seine Ohren. Dabei musste er sicherlich aussehen wie ein kleines Kind, das sich vor einem lauten Geräusch schützen wollte. Er erwartete einen lauten Knall oder dass sich ein neuerliches Feuer entzündete und den gesamten Wald in ein loderndes Inferno verwandeln würde. Doch das passierte nicht. Nein ... Das, was er zu sehen bekam, übertraf alle seine Erwartungen, denn vor seinen Augen spielte sich ein irres Schauspiel ab. Verschwommen erkannte René, wie Morgan immer größer wurde. Wie ein Heliumballon, den man viel zu stark aufblies. Bald hatte er die Größe der Eiche erreicht. Dann wurde er durchsichtig. Ja, durchsichtig ...

Wie ein schummriges Hologramm erschien er mal schärfer, mal durchsichtiger. Und die Sonne des neuen Tages schien durch ihn hindurch. Der unbezwingbare Magier ächzte und wand sich, wusste wahrscheinlich selbst nicht, was mit ihm passierte. Seine Gesichtszüge wurden zu einem Kaleidoskop an beißendem Schmerz, bitterer Enttäuschung und brennendem Zorn. Mit aller Kraft wehrte er sich gegen das, was mit ihm passierte, doch die Bemühungen zeigten so viel Erfolg wie René in seinem Referendariat hatte. Bittere Ironie, dass ihm dieser Vergleich jetzt gerade einfiel.

Der Quell von Morgans Qualen stand einfach nur da und sah, was er getan hatte. Ja, was hatte er denn eigentlich getan? Er hatte dasselbe magische Wort angewandt wie bei Anela, um diese aus ihrer Trance zu wecken. Als er ihr in die Augen geschaut hatte, in das unbewegte, eingefrorene Gesicht. Nur dass es Anela geheilt hatte, Morgan aber offensichtlich von innen heraus zerstören würde.

Morgans schmerzerfüllte Schreie wurden immer leiser und hohler, als würde er in einen tiefen Brunnen fallen. Seine volle Stimme verhallte zu einem fadenscheinigen Hauch. Ohne ein einziges Geräusch zerfiel er schließlich in tausende schwarze Splitter. Wie schwarzer Regen kam es über René, Sandro und Anela und bedeckte sie damit.

„Woher ...?", fragte Anela und sprang auf die Beine. Wie wildgeworden sprang sie auf Sandro zu und drückte ihn mit Schwung gegen die Eiche. Einen langen und intensiven Moment schaute sie ihm in die Augen, als sei sie unschlüssig darüber, ob sie ihn küssen sollte oder nicht. René konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, war sich aber sicher, dass es kein liebevoller Blick war, mit dem sie den Jungen bedachte.

„Was habe ich getan?", fragte Sandro erschrocken.

„Was verdammt ist los mit dir? Das kann gar nicht sein!", rief Anela ihm entsetzt ins Gesicht. Vom Beginn ihrer gemeinsamen Reise bis jetzt hatte das Mädchen mit den lila Haaren immer mehr von ihrer anfänglichen Ruhe verloren. Wie ein junger Fuchs, der sich Meter um Meter aus dem Schutz seines Baus herauswagte und mit jedem tapsigen Schritt ins Licht der Sonne mehr und mehr spürte, was dort draußen auf ihn wartete. 

Sie hatte sich überschätzt, wie es wahrscheinlich jedem Jugendlichen früher oder später ging. René konnte es ihr nicht übelnehmen. Auch jetzt nicht. Trotz der Mischung aus Angst und Verwirrung, die er in diesem Moment verspürte, die hochkonzentrierte Angst und die Verwirrung, die seine Beine mit Pudding füllte, trotz allem nicht.

„Ich habe keine Ahnung, sag du es mir! Du weißt doch alles über Magie oder nicht? Du bist doch Morgans Tochter, nicht ich! Na los, raus mit der Sprache!", forderte Sandro und fasste sie an den Schultern. Das Mädchen schien nicht genug Kraft zu haben, um den Schüler weiterhin gegen dien Baum zu drücken und ließ es geschehen, dass er die Oberhand gewann.

„Du kannst Magie anwenden, was gar nicht sein dürfte - das ist los. Muss ich dir das das noch erklären? Das, was du gerade geschafft hast, ist großartig! Mit einem einzigen Wort hast du Morgan verbannt!", sagte Anela. Trotz der Erschöpfung, die man ihr ansah, wirkte sie ehrfürchtig. René näherte sich vorsichtig. Perplex schaute Sandro auf seine Hände, als wären sie die Werkzeuge gewesen, mit denen er gegen den übermächtigen Magier angekommen war. Mit denen er ihn verbannt hatte. Verbannt, nicht besiegt, ging es René mit einer schmierigen Spur Unbehagen durch den Kopf.

Tief verborgen - Das Refugium | Thriller x FantasyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt