✴︎ Kapitel 14 ✴︎

21 7 28
                                    

Als Sandro die Uhrzeit auf dem Display in Herrn Bentheimers Auto sah, wurde ihm schwer ums Herz. 6:45 Uhr. Das war immer die Uhrzeit, zu der ihn seine Mutter aufweckte. Heute nicht. Er konnte sie vor sich sehen, wie sie am Küchentisch saß, mit verweinten und geröteten Augen, weil sie keine Sekunde geschlafen hatte. Und er saß hier, in dem Zweisitzer seines Französischlehrers und hatte ebenfalls kein Auge zugemacht. Er betrachtete sein Spiegelbild in der Fensterscheibe und sah einen Jungen mit zerzausten braunen Haaren und nachtblauem Hoodie, der irgendwie noch ein Kind war.

Sandro hatte gestern vorgeschlagen, im Schutz der Dunkelheit nach Siltingen zu fahren, aber Herr Bentheimer hatte darauf bestanden, auf dem Rasthof im Auto zu übernachten. Komischer Typ, erst war es ihm nicht schnell genug gegangen, wieder zurück zu fahren und dann wollte er es selbst noch hinauszögern. Aus dem Mann wurde Sandro nicht schlau.

Auf seinem Handy, das stummgeschaltet war, hatten sich gestern Abend zwölf entgangene Anrufe befunden - allesamt von seiner Mutter. Als er das gesehen hatte, war ihm zum Heulen zumute gewesen. Der Druck hinter seinen Augen war gefährlich groß geworden und so war er ausgestiegen unter dem Vorwand, frische Luft zu brauchen. Er hatte sich einige Meter vom Auto entfernt und dann seine Mutter zurückgerufen.

Sie hatte ihn darum gebeten, zurückzukommen, er hatte versucht, ihr zu erklären warum das nicht ging. Sie hatte gedroht, dem Lehrer die Polizei auf den Hals zu hetzen, er hatte ihr erklärt, dass er freiwillig mit ihm weggefahren war. Dass er Herrn Bentheimer regelrecht dazu genötigt hatte. Dass den Lehrer keine Schuld traf. Ihre Worte waren von Tränenströmen unterbrochen worden. Sandro selbst waren sie die ganze Zeit über über die Wangen gelaufen. Immer wenn er gedacht hatte, es käme nichts mehr, hatte er feststellen müssen, dass der Strom doch noch nicht versiegt war.

Und nun fuhren sie wieder zurück nach Siltingen, aber nicht, um einfach wieder zurück nach Hause zu gehen als sei nichts gewesen. Sie würden die Reporterin finden müssen. Und darauf hoffen, dass sie Material hatte, das Sandro entlasten würde. Alles weitere würde sich dann auch auflösen. Hoffentlich. Sandro würde sich dafür einsetzen, dass Herr Bentheimer nicht belangt werden würde. Er würde alles daran setzen, dass der Mann seinen Job nicht verlieren würde. Die Welt brauchte Menschen wie ihn. Lehrer wie ihn.

Auch wenn es nicht den Anschein machte, aber Herr Bentheimer war in Sandros Klasse nicht gerade unbeliebt. Seine Klassenarbeiten waren immer fair. Sein Unterricht war gut strukturiert. Wenn jemand etwas nicht verstand, nahm er sich Zeit, es zu erklären. Auch wenn viele in seiner Klasse das nicht zeigten, so fanden alle Herr Bentheimer zumindest ganz okay. Und das wollte in einer zehnten Klasse - in seiner zehnten Klasse - doch etwas heißen.

„Haben Sie einen Plan?", fragte Sandro und rieb sich die müden Augen.

„Nein. Wir lassen jetzt alles einfach auf uns zukommen. Etwas anderes können wir auch nicht tun. Gestern, als du tel ... an der frischen Luft warst, habe ich das Radio eingeschaltet. Nichts. Kein Wort über den Lehrer, der mit seinem Schüler vor der Polizei abgehauen ist. Stattdessen irgendwelche Meldungen über Staus, über einen Autodiebstahl. Aber kein Wort mehr über dich oder mich. Und auch die komischen Vorfälle, bei denen du zugegen warst, wurden aus dem Programm gestrichen. Nichts erinnert an das, was sich gestern erst zugetragen hat", berichtete Herr Bentheimer und rieb sich die Augen.

„Wie kann das sein? Wenn so etwas passiert, dann quellen die Nachrichten fast über vor lauter Berichterstattungen und Sondersendungen", entgegnete Sandro.

„In der Regel, ja. Vielleicht will man uns in falscher Sicherheit wiegen", gab der Lehrer zu bedenken. Das leuchtete auch Sandro ein.

„Aber in dem Fall ist es ja purer Wahnsinn, was wir vorhaben", sagte er mit einem leichten verwegenen Lächeln auf den Lippen, das sich wie ein heimlicher Dieb in sein Gesicht gestohlen hatte.

Tief verborgen - Das Refugium | Thriller x FantasyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt