✴︎ Kapitel 3 ✴︎

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Pling. Eine Nachricht von Melissa.

Na, was macht mein Lieblings-Weirdo?

Sandro rümpfte die Nase. Bei ihr hatte er kein gutes Gefühl. Seitdem er dem top gestylten Mädchen, das immer an seiner Choker-Kette spielte, gegenüber erwähnt hatte, dass er sich gerne an ungewöhnlichen Orten aufhielt, nannte sie ihn einen Weirdo. Es war sicher nur im Spaß gemeint, aber immer, wenn sie es sagte, hatte ihre Stimme den Klang, als würde sie es auch so meinen. Wenn sie ihn so nannte, fühlte er sich auf seltsame Weise ausgegrenzt. Als würde er anders sein, als würde er nicht dazu gehören. Ein Weirdo eben.

Er schaltete das Handy stumm und steckte es zurück in die Hosentasche - ohne auf Melissas Nachricht zu antworten. Vielleicht würde sie auch keine weitere Nachricht mehr schreiben. Wahrscheinlich aber schon. Sandro war es nicht entgangen, dass sie seine Nähe suchte. Im Klassenzimmer saß sie auf dem Platz direkt neben ihm. Mit vielsagendem Lächelnd brachte sie ihm manchmal einen Muffin vom Pausenverkauf mit. Ungefragt. Klar war das nett, aber er verlangte es nicht. Denn unausgesprochen hing damit die Forderung nach einer Gegenleistung in der Luft.

Sandro stützte sich mit den Unterarmen auf das Geländer der kleinen Brücke, die über einen schmalen Fluss am Stadtrand verlief und schaute in die Ferne. Die Lichter der Stadt hoben sich am späten Nachmittag im Oktober noch kaum von dem Himmel ab. Später, bei Nacht, würde es viel atmosphärischer hier sein. Aber dies war der erste Ort, der ihm eingefallen war. Er hatte alles, was Sandro gerade brauchte: Ruhe und kaum andere Menschen. Den Schrottplatz hatte ihm seit neuestem ein Obdachloser streitig gemacht, der offenbar keine Gesellschaft wünschte. Sei es drum.

Hinter Sandro fuhr eine Fahrradfahrerin in hellblauer Fahrradbekleidung wie ein Blitz vorbei in Richtung Wald. Hier und am anderen Ende der Stadt kam man auf direktem Weg dorthin. Ansonsten war auf diesem Weg glücklicherweise nicht viel los. Das machte den Ort für Sandro auch zu etwas Besonderem. Hier hatte er seine Ruhe. Die Ruhe - wenn überhaupt - hatte jedoch einen Haken; sie zwang ihn zum Nachdenken. Nix da mit Gedankenstille. Was für ein Trugschluss! Denn wenn von außen gar nichts mehr kam - keine Reize, keine Eindrücke - dann fingen die inneren Prozesse an, zu laufen. Dann qualmte es im Oberstübchen.

Es fing immer gleich an. Da krabbelten die fiesen, kleinen Sorgen wie rotäugige Spinnen an Sandros Beinen entlang. Sie bissen ihn und injizierten kribbelnde Unsicherheit in seine Blutbahn, die sich ausbreitete und seine Gedanken und Gefühle befiel. Daher kam auch das ungute Gefühl darüber, dass ein Video im Netz aufgetaucht war, in dem man Sandro am Unfallort sehen konnte. Eigentlich hatte es nichts zu bedeuten. Was sollte denn auch schon sein? Er hatte nichts mit dem Unfall zu tun! Nichts! Er war nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, das war alles. Es gab keinen Zusammenhang.

Und dann dieser verschissene Nachrichtenbericht. Hätte er bloß nicht den dämlichen Fernseher eingeschaltet! Hätte er den Bildschirm schwarz und die Lautsprecher stumm gelassen! Dann hätte er den Mist auch nicht mitbekommen. Und vor allen Dingen seine Mutter nicht. Einen Zusammenhang! Ja, klar. Was hatte Sandro mit einem Unfall zu tun, der wortwörtlich aus heiterem Himmel gekommen war? Das Auto war ... was war es eigentlich? Irgendwo gegen gefahren? Nein.

Nein. Dort war nichts gewesen und doch hatte es ausgesehen, als sei der Wagen mit vollem Tempo gegen eine Mauer gefahren. Das konnte sich doch kein Mensch erklären. Und wenn man sich etwas nicht erklären konnte, dann suchte man so lange nach irgendeiner halbwegs plausiblen Antwort, die das Geschehene wenigstens annähernd begreifen lassen konnte. Aber warum hatten sie dann gesagt, dass ausgerechnet er - Sandro - in Verbindung mit dem Vorfall gebracht wurde? Warum hatte man die Schuld nicht direkt bei dem Fahrer des Sportwagens gesucht? Warum ...

Der Gedankenstrom wurde jäh unterbrochen, als Sandro eine Regung im Augenwinkel wahrnahm. Da näherte sich ihm jemand, aber dieser Jemand schien nicht hinter ihm vorbei in den Wald zu gehen, sondern direkt auf ihn zu zusteuern. Etwas verhalten zwar, aber eindeutig und zielsicher in seine Richtung. Sandro drehte sich um und sah den unverkennbaren lila Haarschopf.

Tief verborgen - Das Refugium | Thriller x FantasyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt