✴︎ Kapitel 29 ✴︎

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Als sie ihre Augen öffnete, wunderte sie sich. Sie wunderte sich nicht darüber, was sie sah, sondern in erster Linie darüber, dass sie ihre Augen überhaupt geschlossen hatte. Wann war das passiert? Zeit und Raum hatten sich ineinander verwoben, sie waren verschmolzen und daher konnte Georgina nicht sagen, wie viele Minuten oder Stunden überhaupt vergangen war. Weich gebettet lag sie, wie auf einem Federbett. Doch dieses hier war ein wenig feucht und kitzelte. Über ihr ragten die unendlichen Baumkronen in den hellblauen Himmel, der sie freudig anlächelte. Das Antlitz des Horizonts war durch keine einzige Wolke verschleiert.

Vorsichtig richtete sich Georgina auf den Unterarmen auf und sah sich um. Worauf lag sie denn ...? Ein Blick nach unten zeigte ihr, dass sie sich auf weichem, dunkelgrünen Moos befand, der sich wie ein naturgegebener Teppichboden über die Erde streckte. Einige Meter neben ihr saß Andor im Schneidersitz und schien zu meditieren. Er saß mit dem Rücken zu Georgina, weshalb er sich nicht gewahr wurde, dass sie aufgewacht war. Aus einem Schlaf, einer Ohnmacht oder was auch immer das gerade gewesen war. Leise und behände wie eine Katze stand sie auf und ging zu ihm. Er hatte die Augen geschlossen.

„Andor?", fragte sie.

„Hm?", machte er, ohne die Augen zu öffnen.

„Was ist das? Ich meine ... es ist mir schon klar, was das hier ist, aber ... hat es funktioniert?"

Andor machte die Augen auf und schaute Georgina mit klarem Blick eine Weile an.

„Machst du Scherze? So nah wie wir jetzt ist noch nie jemand an das geheime Versteck von diesem Bastard gekommen", entgegnete er. Seine Stimme war zwar ruhig, aber zum Satzende hin schwang eindeutig eine ganze Ladung Wut mit. Georgina war von Andor eine andere Wortwahl gewohnt, doch sie konnte es nachvollziehen. Kein normaler Magier sprach positiv über den mächtigsten ihrer Art, doch bei Andor war es etwas anderes, etwas Persönliches. Und jetzt, wo Morgan die magische Brücke zum Einsturz bringen wollte, die die beiden in mühevoller Arbeit aufgebaut hatten, gab es nur noch einen Grund mehr für Andor, Abscheu gegen den unantastbaren Magier zu hegen.

„Und hier soll es sein?", hakte sie nach und sah sich um.

„Wundert es dich denn? Hier ist der perfekte Ort dafür. Spürst du es auch?", fragte Andor. Er zeichnete mit dem Zeigefinger Schnörkel in die Luft, die einen goldenen Schweif hinterließen und sich dann mit einem Knistern wie bei Wunderkerzen in zahlreiche kleine anthrazitfarbene Sterne auflösten. Der Ort war voller Energie, das konnte man nicht nur spüren, sondern auch sehen.

Georgina tat es Andor gleich und zeichnete Wellenlinien in die klare Waldluft. Goldenes Funkeln, das sich zu dunklen Sternen auflöste, die in den Himmel schwebten. Es war wunderschön! Ein Gefühl, als sei sie frisch verliebt durchflutete ihren Bauchraum. Ein warmes, herrliches Gefühl nahm sie komplett ein. Erleichtert lächelte sie Andor an.

„Das ist wunderbar", murmelte sie fasziniert. Er nickte lächelnd. Georgina zeichnete ein goldenes Herz in die Luft und schaute Andor an. Mit einem schwerfälligen Ausdruck in den dunkelblauen Augen betrachtete er, wie es sich in die vielen kleinen dunkelblauen Sterne auflöste. Als er merkte, dass sie ihn ansah, schlang er seine Arme um ihre Taille und küsste ihren Hals. Georgina fasste mit einer Hand an seine Wange und strich sie sanft entlang. Sie sah, wie sich eine Gänsehaut auf seinem Arm ausbreitete.

Als es plötzlich raschelte und Hölzer knackten, sahen die beiden auf. In weniger als zehn Metern Entfernung stand ein Braunbär. Mit aufmerksamen Augen musterte er das Liebespaar. Eine Pfote angehoben, als würde er den nächsten Schritt tun wollen, verharrte er in der Bewegung. Ohne eine Spur von Angst vor diesem mächtigen Lebewesen verblieben auch Andor und Georgina in ihrer Umarmung. Der Bär setzte die Pfote ab und grummelte. Dann senkte er den Kopf, als würde er sich für die Unterbrechung entschuldigen wollen und stapfte seiner Wege.

Tief verborgen - Das Refugium | Thriller x FantasyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt