❈ Prolog ❈

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Die Wurzel aus minus eins zu ziehen war ein passables Vorhaben im Vergleich dazu, seine eigenen Gedanken und Gefühle zu verstehen, wenn man nicht mehr ganz Kind, aber auch noch kein Jugendlicher war. Wenn nicht mehr das Klettergerüst auf dem Spielplatz der Patron ewig währender Sommernachmittage war, sondern Taschenrechner und Konjugationstabellen.

Auf seinem Schulweg nach Hause dachte Paul über vieles nach. Zum Beispiel darüber, dass er gerne ein Skateboard hätte. Darüber, dass Alina ihn immer einen kleinen Ginger nannte und darüber, dass er Fiona gerne einen Brief zustecken würde, wo sie Ja, Nein oder Vielleicht ankreuzen müsste. Aber genauso wenig, wie er etwas gegen Alina sagen konnte, traute er sich, etwas zu Fiona zu sagen. Das ärgerte ihn. Der Gedanke an die Mathehausaufgaben drängte sich in seinen Kopf. Paul hasste Mathe. Fast sogar noch mehr als er Alinas dumme Kommentare zu seiner Haarfarbe hasste. Sein Wochenende würde mit Nennern und Zählern stattfinden statt mit Fußball und Freunden.

Es war ein wirklich schöner Tag Anfang Oktober. Mit den immer bunter werdenden Blättern hatte der Herbst auch das neue Schuljahr eingeläutet. Jetzt war Paul seit wenigen Wochen ein frischgebackener Fünftklässler und Mann, Mann, was für Bürden so ein Fünftklässler zu tragen hatte! Die neue Schule, die ganzen neuen Gesichter, neue Schulfächer. Mehr Schulfächer. Da war Paul froh, wenn er den Freitag erreichte. Als Fünftklässler hatte man es wirklich nicht leicht.

Sein Schulweg führte ihn eine mit Bäumen gesäumte Allee entlang. Hier war es schön ruhig, obwohl viele Spaziergänger und natürlich auch die ganzen Schulkinder diesen Weg benutzten. Gerade rauschte zum Beispiel einer der älteren Schüler - wahrscheinlich einer aus der Oberstufe oder knapp davor - auf seinem knallgrünen Fahrrad an ihm vorbei. Ohne Helm - dafür hätte Mama ihrem kleinen Paul eine Predigt gehalten!

Ob die Mama von diesem Burschen ihm das nicht auch gesagt hatte? Gerade, weil er so schnell fuhr, wäre ein Helm nicht schlecht gewesen. Mann, Mann, Mann, bei dem Tempo wäre er das auf keinen Fall! Wusch und weg war er. Es war irgendwie so, als würden die Bäume die ganzen Geräusche schlucken. Das sagte man ja immer über den Schnee, dass er die Geräusche abdämpfen würde. Dass es leiser sei, wenn Schnee lag.

Bestätigen konnte Paul das nicht, weil er sich noch nie darum gesorgt hatte. Vielleicht würde er im kommenden Winter darauf achten. Wahrscheinlicher war aber, dass er es einfach wieder vergessen würde. Bei dem, was er so als Fünftklässler alles um die Ohren hatte, wäre das auch kein Wunder.

Die trockenen Blätter, die auf dem asphaltierten Weg lagen, knisterten unter seinen dunkelgrünen Sneakers. Aus der Richtung eines mehrstöckigen Hauses wehte der warme Duft von Bratkartoffeln zu Paul und wie auf Knopfdruck reagierte sein Magen darauf. Protestierendes Grummeln, weil auf den herrlichen Duft noch keine Nahrungsaufnahme folgte.

Das grüne Blättchen eines Feldahorns segelte, sich um seine eigene Achse drehend, herunter und landete auf der Schulter von Pauls braun-blau gestreiften Windbreaker. Er nahm es zwischen die Finger und betrachtete es. Früher hatte er sich diese Dinger immer auf die Nase geklebt. Früher, das hieß in der Welt eines Elfjährigen vor einem Jahr. Mit seinen alten Freunden. Und alte Freunde hieß in dem Fall die Truppe aus der Grundschule.

Die Wege hatten sich getrennt und Paul war auf eine andere Schule gekommen als seine Freunde. Als alle seiner Freunde. Das lag daran, dass seine Eltern das Ende der Grundschule abgewartet hatten, um endlich in eine andere Stadt ziehen zu können. Weil die alten Freunde dann sowieso auseinander gerissen worden wären, wie sie ihm zu erklären versucht hatten.

Aber so ganz stimmte das nicht. Die alten Freunde waren jetzt alle auf derselben Schule, während Paul nun so weit weg wohnte, dass er nicht mal eben mit seinem Fahrrad vorbei fahren konnte. Dieses verdammte Siltingen! Nur dreißig Kilometer entfernt von Freiburg, aber für einen Elfjährigen waren seine Freunde damit so gut wie aus der Welt. Vielleicht hätte er mit ihnen auch Mathe besser ertragen können. Aber es war nun einmal so.

Paul ließ das Blättchen los und sah dabei zu, wie es sich drehend wie ein kleiner grüner Propeller auf den Boden zusteuerte und dann sanft landete. Die Allee begann sich zu lichten und die Straße, die er noch überqueren musste, kam in Sicht.

An der Ampel stand bereits ein Mädchen mit einer wirklich interessanten Haarfarbe. Lila. Sie sah aus wie eine Fee im Märchen. Mit Schwung drückte Paul auf die Ampel, obwohl das Mädchen sicherlich schon selbst auf den Knopf gedrückt hatte. Doch Paul hatte Hunger und konnte es kaum erwarten, endlich seinen schweren Schulranzen abladen zu können. Obendrein musste er aufs Klo. Er drückte nochmal auf die Ampel. Zweimal hintereinander. Paul gehörte zu der Sorte Leute, die glaubten, dass das Licht schneller auf Grün wechseln würde, je öfter man drückte.

Aber noch hatte nicht er Grün, sondern die Autofahrer. Ein matellicblauer Sportwagen kam die Straße entlang geprescht. Laute Musik drang nach außen, dass das Fahrzeug von den Bässen zu vibrieren schien. Der Fahrer hatte die Scheibe heruntergelassen und lehnte mit dem Arm im offenen Fenster. In der linken Hand hielt er eine glimmende Zigarette, die rechte Hand lag locker-lässig auf dem Lenkrad.

Paul folgte dem Wagen mit seinem Blick. Er fuhr von rechts nach links an ihm vorbei in Richtung einer naheliegenden Kreuzung. Die war sehr gut einsehbar, denn es standen da keine größeren Hecken und keine Gebäude. Mitten auf der Kreuzung blieb der Wagen jedoch abrupt stehen. Bremsgeräusche waren aber keine zu hören. Stattdessen ein kreischendes metallisches Knirschen. Paul sah den Wagen nur von hinten, konnte aber nicht erkennen, was ihn zum Stehen gebracht hatte.

Mittlerweile war die Fußgängerampel auf Grün gesprungen, aber das interessierte Paul auf einmal gar nicht mehr. Der Fahrer des Wagens trat die Tür von innen auf und sprang aus dem Wagen. Die Zigarette glimmte nun auf der Straße weiter, die schien ihn auch nicht mehr zu interessieren. Die blondierte Igelfrisur, die sicherlich eine halbe Tube Haargel beheimatete, sah in Kombination mit dem entsetzten Gesichtsausdruck gar nicht so cool aus.

Der Mann stellte sich vor sein Auto und fuhr mit den Händen in der Luft herum, als würde er im Dunkeln nach etwas tasten. Dann fasste er sich an den Kopf und verdrückte damit die Frisur. Rauchschwaden stiegen nun aus der aufgerissenen Motorhaube aus. Mit eiligen Schritten kam Paul näher, denn nun wollte er wirklich wissen, was da los war.

Je mehr sich Paul von der Vorderseite des Autos offenbarte, desto unwirklicher kam ihm auf einmal alles vor. Von vorne sah das Fahrzeug so aus, als sei es gegen eine Wand gefahren. Nur war dort keine Wand. Dort war gar nichts. Weit und breit. Paul würde zwar erst ab der siebten Klasse Physik haben, aber nicht einmal das taugte im Moment zu einer Erklärung für das, was er sah. Da stand der Wagen, die lange Motorhaube war komplett eingedrückt und stand offen wie der Schlund eines hungrigen Monsters. Der Wagen sah aus, als sei man damit gegen eine solide Mauer gefahren, nur dass da eben keine Mauer war. Da war ganz einfach gar nichts.

Tief verborgen - Das Refugium | Thriller x FantasyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt